ZdK-Vizepräsidentin: Wahlrecht in Europa wahrnehmen

"Politisch sind wir alle"

Christen und Christinnen haben bei der Europawahl eine besondere Verantwortung - das betont ZdK-Vizepräsidentin Claudia Lücking-Michel. Sie ruft deshalb dazu auf, das Wahlrecht als Verpflichtung anzusehen und sich zu Europa zu bekennen.

 (DR)

DOMRADIO.DE: Vielleicht war eine Europawahl noch nie von so großer Bedeutung wie die kommende Wahl Ende Mai. Schließlich geht es da auch um Grundsätzliches, um ein Bekenntnis zu Europa und zur EU und gegen einen Nationalismus, der am liebsten die EU und das Europaparlament sofort abschaffen würde. 

Dr. Claudia Lücking-Michel (Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH)): Ich glaube, dass diese Europawahl eine ganz besondere Bedeutung hat. Europawahlen waren immer wichtiger als viele von uns wahrgenommen haben. Bei dieser Wahl, die jetzt im Mai ansteht, kommt ganz Entscheidendes zusammen. Denn wir merken, dass eine zunehmende Gruppe von Parteien antritt mit dem dezidierten Anliegen, nicht an einem Europa der Zukunft und der gemeinsamen Stärke weiterzuarbeiten, sondern das, was wir erreicht haben, zu zerschlagen und weitere Entwicklungen zu verhindern. Das ist so abstrus und so verrückt, aber offensichtlich trotzdem so populär, dass ich von ganzem Herzen sagen kann: Alle, die Verantwortung haben als Wählerinnen und Wähler, sollten an diesem 26. Mai zur Europawahl gehen und dann hoffentlich Parteien wählen, die konstruktiv für eine Zukunft eines gemeinsamen Europas arbeiten.

DOMRADIO.DE: Wie erklären Sie sich, dass diese nationalen Bewegungen so einen Zulauf haben? Wir haben doch aus der Geschichte gelernt, wohin Nationalismus führen kann. Man fasst sich doch an den Kopf, dass da wieder dieser neue Nationalismus aufkommt.

Lücking-Michel: Das kann man wirklich sagen: Man fasst sich an den Kopf. Und ob wir aus der Geschichte wirklich lernen, das werden wir dann mal zeigen müssen. Europa ist bisher ein wunderbares Friedensprojekt, wenn man mal auf die Geschichte guckt. Noch nie hat es in der Geschichte auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eine so lange Phase des Friedens gegeben wie jetzt seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist natürlich ein Ergebnis von Europa.

Aber was hören wir denn stattdessen? Wir hören einen amerikanischen Präsidenten, der laut und immer wieder sagt: "America first!" Und wir hören genügend europäische Politiker, die sich nicht entblöden, das für ihr Land zu wiederholen. Man darf zwar noch nicht sagen: "Deutschland, Deutschland über alles". Aber "Deutschland first" hört man schon wieder ungestraft im Deutschen Bundestag. Da kann einem doch nur angst und bange werden. Und dann gucken wir nach Österreich, nach Ungarn, nach Italien - und wir sehen, da sind starke Kräfte.

Ich kann es mir nicht wirklich erklären. Nur so, dass ich sage: "Ja, dieses europäische Projekt ist kompliziert. Es ist mühselig. Mit jedem, der dazukommt wird es schwieriger. Es ist ja auch nicht alles gut gelaufen. Es gibt noch viel zu regeln." Da ist es doch viel einfacher, sich hinzustellen und zu sagen: 'Deutschland first, wir alleine werden es schon schaffen' und die Leute in dieser Illusion hinterher zu treiben.

DOMRADIO.DE: Aber gerade in Deutschland müssten wir doch kapieren, dass wir auch wirtschaftlich von Europa profitieren. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit langem, Wirtschaftsexperten sprechen schon von einem kleinen Wirtschaftswunder, unser Gesundheitssystem ist eines der wertvollsten weltweit. Und wir haben die längste Lebenserwartung, die es jemals auf der Welt gab. Also alles gut, und das hängt auch mit dem ökonomischen Erfolg in Europa zusammen. Warum wollen viele Menschen das kaputtmachen?

Lücking-Michel: Ich erlebe immer wieder in vielen Diskussionen, dass erstens das Haar in der Suppe gefunden und erklärt wird, was alles schiefläuft. Dass aber vor allen Dingen - und das scheint mir das größere Problem zu sein - nicht wirklich erkannt wird, wie sehr wir das Erreichte dem europäischen Projekt zu verdanken haben.

Diese fürchterliche Brexit-Geschichte, der wir jetzt ja nicht nur zuschauen, sondern wo wir mittendrin sind - denn wir sind betroffen - hat einen kleinen Vorteil: Zum ersten Mal kapieren Menschen, was alles da dran hängt, wenn man zur EU gehört oder wenn man jetzt wieder aussteigt.

Ist es denn von Vorteil oder von Nachteil, wenn unsere Kinder sich gar nicht mehr daran erinnern können, dass es Grenzen gab, dass man Geld wechseln musste und dass sie Europa als Schul- und Hochschulraum als Selbstverständlichkeit wahrnehmen? Die schauen nach Möglichkeiten zu reisen, sich zu treffen über die Grenzen hinweg, als wäre das alles immer schon eins gewesen. Einerseits sage ich: Wie wunderbar, dass das so selbstverständlich ist. Andererseits mache ich mir Sorgen und denke: "Wenn wir nicht wissen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man sich dafür einsetzen und engagieren muss, fehlen uns vielleicht auch die engagierten Unterstützer, die sagen: Auf keinen Fall wollen wir das riskieren."

DOMRADIO.DE: Wie sollten sich denn Christen zu dieser Wahl positionieren? Sollten sie sich nicht doch vielleicht eher heraushalten nach dem Motto: Politik ist Politik und hat nichts mit Glauben und Religion zu tun?

Lücking-Michel: Einspruch! Das kann ich überhaupt nicht so stehen lassen. Ich muss sagen, als Christinnen und Christen haben wir immer eine Verantwortung, nicht nur auf unser individuelles Verhältnis zu unserem Gott zu schauen, nicht nur auf die Situation in unserer Kirche, sondern Verantwortung zu übernehmen für das Leben um uns herum. Und das heißt politisch werden. Ich sage ja nicht parteipolitisch, wobei das auch nicht schlecht ist, wenn man sich die richtigen Parteien aussucht. Aber politisch sind wir alle. Und das Schlimmste was wir machen können ist, das nicht zu erkennen, indem wir es einfach laufen lassen.

Ich wünsche mir von Christinnen und Christen, dass sie deutlich machen: Unsere Geschwister - unsere Schwestern und Brüder - leben überall auf der Welt. Erst recht aber in Europa und mit denen wollen wir zusammen an einem gemeinsamen Europa bauen. Christinnen und Christen sollten ihre Kontakte, ihre Beziehungen untereinander nutzen, um für alle Menschen, die hier leben, gemeinsam eine bessere Zukunft möglich zu machen.

DOMRADIO.DE: Ich greife nochmal das Stichwort "die richtigen politischen Parteien" auf. Wie weit darf das politische Bekenntnis eines katholischen Laienverbandes gehen? Das frage ich Sie jetzt auch als Vizepräsidentin des Zentralkomitees deutscher Katholiken. Dürfen Sie sagen: Wählt nicht die AfD? Dürfen Sie so eine Wahlempfehlung geben?

Lücking-Michel: Ich habe das schon an vielen Stellen getan - ob unter meinem Titel Vizepräsidentin des ZdK, weiß ich nicht. Ich würde es aber nie bei so einem Appell belassen, denn dann handelt man sich doch oft Ärger ein. Sondern ich würde immer Argumente hinterherliefern und sagen: "Schaut auf die Wahlprogramme! Guckt euch an, mit welchen Positionen die Parteien antreten - auch und gerade die AfD. Und dann überlegt, ob das mit christlichen Positionen übereinstimmt."

Da muss man noch nicht mal so genau den Fokus auf die Wahlprogramme legen, dass man sagt: "Guckt mal, was das für Christen und Kirche heißt, wenn die AfD hier die Macht übernimmt." Das wäre vielleicht zu kurz gesprungen. Sondern: "Guckt, was das wirklich für unsere Zukunft heißt, wenn die mit ihren - ich sag mal - rechtsradikalen Positionen wirklich Verantwortung und damit auch die Machtinstrumente in die Hand bekommen."

DOMRADIO.DE: Nun gibt es aber in einigen europäischen Ländern auch Koalitionen zwischen nationalen Politikern und sehr konservativen religiösen Christen - Stichwort Polen oder Ungarn. In diesen Ländern scheinen auch die Katholiken gespalten zu sein.

Lücking-Michel: Das kann man sehr deutlich wahrnehmen. Da hoffe ich, dass es immer wieder Anknüpfungspunkte gibt, wo zum Beispiel wir als ZDK Gespräche führen mit den Laienvertretungen in Polen, in Ungarn, mittlerweile muss man auch sagen, in Österreich. So können wir Brücken bauen, für das gemeinsame europäische Projekt werben und vielleicht auch manchmal untereinander kritische Positionen zu den rechtsradikaleren Auswüchsen der jeweiligen Parteien benennen.

DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich denn für Europa, auch wenn sie an die Flüchtlingskrise denken? Da stehen alle Zeichen auf Abschottung zurzeit. Die europäischen Länder können sich partout auf keinen Aufnahmeschlüssel für Flüchtlinge einigen. Da scheint keine Lösung in Sicht.

Lücking-Michel: Ja. Und ich wünsche mir nicht nur dafür eine Lösung, sondern vor allen Dingen eine klare Erkenntnis und ein klares Bewusstsein vorab, dass es keine Insel der Seligen geben wird. Dieser Gedanke der Festung Europa, dem manche anhängen, zu dem kann ich nur sagen: "Wer jemals in der Welt unterwegs, wer in Afrika war, wer die Situation kennt, weiß: Diese Insel der Seligen werden wir mit keiner Grenzkontrolle, mit keinem Festungsgraben Mittelmeer und keinen Mauern à la Trump hinbekommen." Denn - und das sage ich speziell den Christinnen und Christen - das müsste ja heißen: Wir schauen weg vom Leid der Menschen weltweit und tun so, als könnten wir hier glücklich sein, während woanders Menschen verrecken, etwa an Cholera, an Hunger, auch an den Folgen einer Klimapolitik, die wir mit zu verantworten haben.

DOMRADIO.DE: Also Sie sagen, grundsätzlich gilt für die Wahl Ende Mai: Unbedingt hingehen unbedingt wählen. Warum?

Lücking-Michel: Weil das unsere Verantwortung ist als Staatsbürgerinnen und -bürger, dieses Recht zu wählen auch wirklich als Pflicht wahrzunehmen und nicht zu meinen, dass wichtige Dinge in Deutschland nur über die Bundestagswahl entschieden werden. Wir müssen erkennen, dass in Europa ganz viel entschieden wird, was unser Leben hier beeinflusst und dass wir da genauso eine Verantwortung haben, wählen zu gehen.

Das Interview führte Johannes Schoeer.


Claudia Lücking-Michel (KNA)
Claudia Lücking-Michel / ( KNA )
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