DOMRADIO.DE: Herr Frings, Sie kennen die Region gut. Wenn Sie im Moment die Bilder aus Jerusalem sehen, ist das eine Auseinandersetzung wie viele dort? Oder müssen wir tatsächlich von einer neuen, verschärften Dimension ausgehen?
Marc Frings (Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und ehemaliger Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah): Neu ist es leider nicht. Ich bin froh, dass sowohl religiöse Akteure vor Ort als auch die internationale Staatengemeinschaft sehr schnell das, was in den letzten Tagen dort passiert ist, verurteilt haben. Noch dazu an einem Freitag, dem Holocaust-Gedenktag. Das war noch mal, glaube ich, sehr eindrücklich, um zu sehen, dass auch aus der Gegenwart heraus viele Herausforderungen noch vor uns liegen.
Nichts, und das ist ja Ihre Frage, passiert im Nahen Osten in einem Vakuum, sondern man muss die großen Linien sehen und die zeigen sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten in eine sehr kritische Richtung. Deswegen, würde ich sagen, es ist nicht neu, aber die Verschärfung, die wir jetzt sehen und die sich weiter zuspitzt, hat ihre Wurzeln in den letzten fünf bis zehn Jahren sicherlich gefunden.
DOMRADIO.DE: Die Lage im Heiligen Land schaukelt sich ja seit Wochen schon hoch, insbesondere seit der Wahl im November, bei der Regierungschef Netanjahu teils rechtsextreme Parteien in die Koalition geholt hat. Welche Rolle spielt das bei diesen Ausschreitungen jetzt?
Frings: Das ist die eine Komponente, in die man hineinzoomen muss. Es war ja die fünfte Wahl in den vergangenen Jahren. Das heißt also auch, dass die israelische Demokratie nicht zur Ruhe kommt. Immer wieder ist Wahlkampf. Wir erleben, dass sich immer mehr eine Mehrheit am rechten Rand findet, dass es im Grunde genommen keine klaren Grenzen mehr gibt. Auch Netanjahu, so problematisch er auch als Partner ist, hat immer wieder versucht, mehr in die Mitte zu schielen. Aber er wurde eben durch teils rechtsextreme Parteien immer mehr aus der Reserve gelockt, wurde gezwungen, sich klar zu bekennen für rechte Ziele. Und das hat jetzt dazu geführt, dass es eine Regierung gibt, die wirklich nur noch schwer, denke ich, zu vermitteln ist. Und es zeigt auch, was wir in den ersten Wochen dieser neuen Regierung erlebt haben, mit einem Besuch des rechtsextremen Ministers Ben Gvir auf dem Tempelberg.
Wir sehen aber auch, dass ganz klare Stützen und Fundamente der israelischen Demokratie herausgefordert werden. Ich denke da besonders an das Justizwesen und an den Obersten Gerichtshof. Hier scheint das Checks-and-Balances-System massiv herausgefordert zu werden. Und das bringt gleichzeitig auch die linke, die friedensorientierte Bewegung noch mal mehr auf die Straße. Denn auch solche großen Demonstrationen, wie wir sie in den letzten Wochen in Tel Aviv immer wieder gesehen haben, gab es auch seit Jahren nicht mehr.
DOMRADIO.DE: In den Schlagzeilen gehen die Übergriffe auf Christen etwas unter. Donnerstagabend gab es Gewalt von jüdischen Extremisten im christlichen Viertel der Altstadt. Die Polizei ist offenbar erst nach einer Stunde eingeschritten. Weshalb trifft es jetzt auch die Christen, die ja eigentlich im Nahostkonflikt keine große Rolle spielen?
Frings: Das stimmt, sie spielen keine Rolle. Sie sind eine massive Minderheit. Man muss sehen, die Mehrheit zwischen Mittelmeer und Jordan gehört entweder dem Judentum oder dem Islam an und wir reden von etwa einem oder zwei Prozent Christinnen und Christen und davon wiederum die arabischen Christen, die auch zunehmend in die Minderheit geraten, weil eben auch nicht arabische Christinnen und Christen zunehmend nach Israel einwandern. Es gab immer wieder Angriffe auch gegen christliche Stätten. Davon waren ja auch immer wieder auch internationale Einrichtungen betroffen, siehe Tabgha am See Genezareth. Ich glaube auch hier werden Grenzen ausgelotet.
Es ist immer schlimm, wenn Gewalt passiert, ganz gleich, gegen wen. Und ich glaube, hier wird auch noch mal deutlich zu sehen sein, inwieweit sich der israelische Staat klar bekennt, auch für eine plurale Gesellschaft. So würde ich es vor allem sehen. Wer die Altstadt von Jerusalem kennt, weiß, es ist ein sehr kleines Gebiet. Wir reden von einem Quadratkilometer Fläche und dort fehlt es nicht an Sicherheitspersonal, nicht an Kameras. Ich denke, das wird noch mal eine große Herausforderung sein, um das deutlich zu markieren. Und auch die kirchlichen Vertreter vor Ort haben sich ja sehr schnell zu Wort gemeldet, inwieweit Minderheitenschutz eine Rolle spielt. Bislang haben Christen da vor allem in die palästinensischen Gebiete geschaut, wo es im Westjordanland eine klare Quotierung gibt, einen großen Fokus auf die christlichen Gruppen. Im Gazastreifen sieht es wesentlich komplizierter aus mit einer islamistischen Führung der Hamas und gerade mal 1000 Christen.
Es ist eine sehr diffizile Situation, die durch ein Unsicherheitsgefühl zusätzlich verstärkt wird, das sich in eine 100 Jahre andauernde Abwanderungsbewegung einbettet. Denn bereits unter den Osmanen haben Christen immer wieder geschaut, ob sie nicht auch im Ausland unterkommen. Viele Christen sind international vernetzt. Insofern ist das immer eine große Gefahr, dass man dann irgendwann doch auf einen Plan B schielt.
DOMRADIO.DE: Wie wird es weitergehen? Sowohl von Israelis als auch Palästinensern wurde in der vergangenen Woche Vergeltung angekündigt. Was kommt da jetzt, was meinen Sie?
Frings: Ich habe vorhin auf die problematische Entwicklung Israels geschielt. Da muss auch auf die massiven Herausforderungen in den palästinensischen Gebieten schauen, wo eine Führung im Grunde genommen keine Autorität mehr hat. Das gilt sowohl für die Hamas im Gazastreifen, der es nicht gelungen ist, eine Alternative, natürlich ein herausforderndes Konzept, anzubieten. Aber wir sehen auch, dass die Autonomiebehörde im Westjordanland keinen Rückhalt mehr hat und immer mehr sich zurückzieht auf Ramallah maximal.
Das sind die Trends, die wir seit ungefähr einem Dreivierteljahr beobachten. Im Flüchtlingslager Jenin gab es vor einigen Tagen ja auch noch mal Ausschreitungen. Das steht für mich sinnbildlich dafür, dass gerade junge Gruppen, junge Personen sich immer mehr selber organisieren, aber auch selber bewaffnen und damit die Autoritäten aller großen, auch gewaltbereiten Bewegungen in Frage stellen. Das zeigt, dass hier der Rückhalt immer weiter leidet und die klare Perspektive fehlt.
Wenn man nach vorne schaut, glaube ich, haben beide Gesellschaften, sowohl die Israelis als auch die Palästinenser, es verdient, wieder mit Führungen ausgestattet zu werden, die auch bereit sind, den Gegenüber anzuerkennen, ins Gespräch zu kommen. Ich glaube, dass in der Breite der Gesellschaft derzeit diese Bereitschaft wenig Rückhalt genießt, weil es eben diese Perspektive nicht gibt.
Man weiß nicht, wozu Verhandlungen dienen können, und deswegen, glaube ich, braucht es die ersten Schritte von oben. Während in Israel zu häufig gewählt wird, muss man in Palästina feststellen, wird einfach gar nicht gewählt. Präsident Abbas sitzt seit Jahren, seit dem Tod von Arafat, fest im Sattel, genießt keinen Rückhalt. Und ich glaube, es wäre einfach an der Zeit, dass die Mehrheit der Palästinenser, die unter 30 Jahre alt ist, eine Perspektive bekommen, auch am politischen Prozess teilhaben zu können.
Das Interview führte Carsten Döpp.