DOMRADIO.DE: Im 19. Jahrhundert war der medizinische Fortschritt ja noch nicht so weit wie heute. Mussten denn die Päpste damals - gerade im Fall von Krankheiten und Seuchen - Entscheidungen treffen, die das gesellschaftliche Leben eingeschränkt haben?
Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Ja, das haben sie. Es ist imponierend zu sehen, welche medizinischen Möglichkeiten sie nutzten. Das sollte man gar nicht glauben. Gregor XVI., der immer als sehr reaktionär gescholten wurde, hat sich sogar dafür eingesetzt, dass die Homöopathie angewandt wurde. Er hat erlaubt, dass Naturheilkunde neben der Schulmedizin gegen Cholera und Lungenkrankheiten handelte.
Es gab insgesamt eine ganze Reihe von Vorschriften. Man hat zum Beispiel die Post im Kirchenstaat – also die Briefe – an zwei Seiten geöffnet und sogenannte Räucherschlitze gemacht, an bestimmte Apparaturen gelegt und sie dann einem Räuchervorgang unterzogen. Was ganz besonders verwundert: 1851 gab es einen internationalen Gesundheitskongress zur Cholera. Das Interessante ist, dass Spanien und die päpstlichen Staaten vorgeprescht sind. Als es darum ging, ob man eine Quarantäne einführen sollte, gab es viele Staaten, die sich dagegen gewehrt haben. Der Kirchenstaat war derjenige Staat, der sich am härtesten für strenge Quarantänemaßnahmen einsetzte.
DOMRADIO.DE: Quarantäne bekommen wir ja jetzt auch zu spüren. Mit was hatten denn die Menschen in dieser Zeit zu kämpfen?
Nersinger: Es war vor allen Dingen die Cholera. Die Cholera war für damalige Zeiten eine sehr gefährliche Seuche. Man hat sich gerade in der Nähe von Rom sehr engagiert, dass Quarantänemaßnahmen, aber auch andere Maßnahmen durchgeführt wurden. Parallel zu unserer heutigen Zeit gab es auch damals Proteste dagegen. Ich habe einen Bericht von einem deutschen Reisenden vorliegen, der in den Vatikan reiste und sich darüber beschwerte, dass der Zug angehalten wurde, die Abteile durchräuchert wurden und man Chlorpfannen hineinreichte. Damals gab es schon Widerstand, aber man hat eben auch ganz, ganz scharf gehandelt.
DOMRADIO.DE: Also Maßnahmen, um möglichst viele Menschenleben zu retten und zu schützen. Seelsorge leisten und für die Menschen da zu sein, ist eine der Aufgaben der Kirche. Gehörten Krankenbesuche schon damals für Kirchenmänner dazu?
Nersinger: Es gibt eine sehr interessante Pontifikatsmedaille, die zeigt, wie Papst Pius IX. im Cholera-Jahr 1854 das Hospital Santo Spirito in Sassia, das sich in unmittelbarer Nähe des Vatikans befindet, besucht und am Krankenbett mit zwei Kammerherren und einem Nobelgardisten steht. Ich habe mal die Dokumente durchgeforstet: Das sind historische Tatsachen. Die Päpste sind damals wirklich in die Krankenhäuser gegangen und haben die Seelsorge und die Sorge um den Menschen als sehr wichtig empfunden. Das ist, so glaube ich, auch ein schöner Übergang zu dem, was jetzt der Heilige Vater, Papst Franziskus, macht.
DOMRADIO.DE: Zur Zeit finden keine Gottesdienste statt. Es gibt kein Mittagsgebet auf dem Petersplatz, die Osterfeierlichkeiten werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Papst Franziskus ruft am Mittwoch zum Sturmgebet auf. Am Freitag spendet er sogar den Urbi et orbi Segen – ausnahmsweise. Eigentlich wäre der erst Ostern dran. Was denken Sie, wie kam es dazu?
Nersinger: Man kann eigentlich stolz sein auf diesen Papst. Wenn ihn jetzt noch jemand kritisiert...
Aber was Franziskus macht, zeigt doch einen sehr großen Mut. Wir haben gesehen, wie er die kleinen beiden Wallfahrten in Rom gemacht hat. Dass er noch öffentlich auftritt – wenn auch auf dem Petersplatz mit vermutlich sehr wenigen Leuten – ist doch ein Zeichen. Das zeigt auch, dass wir einen Papst haben, der sich für das Seelenheil der Leute interessiert und dem man auf keinen Fall den Vorwurf der Feigheit machen kann.
Zumal muss man bedenken, dass wir einen im Alter sehr fortgeschrittenen Papst haben, der dazu nur noch einen Teil seiner Lunge besitzt. Das ist nicht nur ein Zeichen der Gläubigkeit, sondern auch des Mutes, des Vertrauens auf Gott und auch ein Zeichen persönlicher Tapferkeit.
DOMRADIO.DE: Nochmal kurz, den Segen Urbi et orbi einfach so vorziehen, geht das generell?
Nersinger: Es ist jederzeit möglich. Das gab es auch in früheren Zeiten. In Situationen, wo es besondere Erfordernisse gab, hat man den Segen erteilt. Man hat ihn in früheren Jahren zum Beispiel auch am Gründonnerstag erteilt. Man kann diesen päpstlichen Segen, wenn es der Heilige Vater möchte, zu jeder Zeit spenden. Und ich denke, das ist gerade in diesen Tagen sehr, sehr nötig.
Das Interview führte Katharina Geiger.