"Das Fehlen von Antworten auf das Leid der Opfer, bis hin zu ihrer Zurückweisung und der Vertuschung des Skandals zum Schutz der Vergewaltiger und der Institution hat unser Volk gebrochen", sagte der 62-Jährige am Donnerstag im Vatikan. Tagle hielt den ersten Redebeitrag des von Papst Franziskus einberufenen weltweiten Bischofstreffens zum Kinderschutz.
"Wie können wir unseren Glauben an Gott bezeugen, wenn wir unsere Augen verschließen angesichts all der durch Missbrauch verursachten Wunden?", fragte der Kardinal in der Synodenaula. Es sei nötig, den "ärmlichen Umgang mit diesen Verbrechen" und eigene Fehler einzugestehen. Auch Bischöfe hätten durch diese Fehler dazu beigetragen, Menschen zu verwunden.
"Persönliche Verantwortung übernehmen"
Tagle forderte zur Übernahme persönlicher Verantwortung auf. "Wir müssen uns verpflichten, alles in unserer Macht stehende zu tun, damit Minderjährige und verletzliche Erwachsene sicher sind", so der Kardinal.
Um die Krise zu überwinden und die Wunden der Opfer sowie auch der Kirche zu heilen, sind laut Tagle besonders Gerechtigkeit und die Bitte um Vergebung wichtig. "Wir als Kirche sollten weiterhin an der Seite derer gehen, die so tief von Missbrauch verletzt wurden, indem wir Vertrauen bilden, unbedingte Liebe aufbieten und immer wieder um Vergebung bitten", so Tagle. Die Bischöfe müssten sich bewusst sein, dass sie diese Vergebung nicht verdienten, sondern sie nur als "Geschenk und Gnade" im Heilungsprozess empfangen könnten.
Die Kirche müsse den Menschen nahe sein, ihre Wunden teilen und Mitgefühl zeigen, sowie Angst vor eigenem Schmerz und Verletzlichkeit ablegen. Es sei wichtig, dass die Kirche sich neben den Opfern auch um die Täter kümmere und diesen helfe, "der Wahrheit ins Gesicht zu sehen", so Tagle.
Fünf Missbrauchsopfer berichten Bischöfen
Mit den Zeugnissen von fünf Opfern sexuellen Missbrauchs hatte am Donnerstagmorgen die vom Papst einberufene weltweite Konferenz gegen Missbrauch in der Kirche begonnen. Vier Männer und eine Frau berichteten per Videoaufzeichnungen über ihr Leiden und ihre Forderungen an die Kirche. Abschriften der Aussagen veröffentlichte der Vatikan im Anschluss; weitere Informationen wurden auf Wunsch der Opfer nicht bekanntgegeben.
Als besonders verletzend und traumatisch - neben dem Missbrauch an sich - schilderten alle die Tatsache, dass Bischöfe und Ordensobere ihnen nicht geglaubt haben. "Das erste, was sie taten, war, mich als Lügner zu behandeln, sich umzudrehen und zu behaupten, ich und andere seien Feinde der Kirche", kritisierte ein Mann aus Südamerika.
Zugleich warnte er vor "falscher oder erzwungener Vergebung"; auch forderte er die Kirchen-Verantwortlichen zur Zusammenarbeit mit Behörden auf.
"Zeitbombe in der Kirche Asiens"
Davon, wie der Missbrauch ihr Leben und ihre Beziehungen zu anderen zerstörte, erzählten ein US-Amerikaner und ein Mann aus Asien. Beide forderten von Bischöfen und Ordensleitungen mehr und entschiedeneres Engagement im Kampf gegen Missbrauch, denen sie Vertuschung vorwarfen. "Ich verlange von den Bischöfen, ihre Hausaufgaben zu machen, denn hier liegt eine der Zeitbomben in der Kirche Asiens", so der junge Asiate. Er forderte auch ausdrücklich Strafen für Vergewaltiger.
Eine Frau aus Afrika schilderte, wie sie seit dem Alter von 15 Jahren von einem Priester über 13 Jahre lang immer wieder vergewaltigt wurde. Weil er keine Kondome oder andere Verhütungsmittel zuließ, sei sie drei Mal schwanger geworden. Der Priester habe sie jedes Mal zur Abtreibung gezwungen. Sie habe sich nicht wehren können, weil sie von ihm wirtschaftlich abhängig gewesen und geschlagen worden sei, wenn sie sich weigerte.
Über das Nicht-Reagieren seines Bischofs berichtete ein Ordensmann aus Osteuropa, der erst als Erwachsener von dem Missbrauch durch einen Priester in seiner Jugendzeit erzählen konnte. Erst der Nuntius habe reagiert und ihm auch geglaubt. Doch auch anschließend habe der Bischof ihn scharf angegriffen.
An dem Gipfeltreffen im Vatikan nehmen die Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen, Vertreter der unierten Ostkirchen, 22 männliche und weibliche Ordensobere sowie Behördenleiter und Experten aus dem Vatikan teil. Auch einige Missbrauchsopfer berichten bei dem Treffen.
Bei Missbrauchsverdacht stets Justiz informieren
Der vatikanische Chefankläger für Sexualstraftaten, Erzbischof Charles Scicluna, forderte eine Zusammenarbeit der kirchlichen Stellen mit der Justiz. Ebenso müssen sie bei Missbrauchsanzeigen die staatlichen Gesetze beachten.
Scicluna betonte, wegen der unterschiedlichen Beweismittel und der oft divergierenden Verjährungsfristen komme es häufig zu unterschiedlichen Urteilen vor staatlichen und kirchlichen Strafgerichten. Dennoch profitierten Kirche und Gesellschaft davon, wenn beide Rechtskreise möglichst gut zusammenarbeiteten.
Die Kirchenoberen rief Scicluna auf, unkomplizierte Möglichkeiten für die Anzeige von Missbrauchsfällen einzurichten, um eine Kultur der Offenheit zu fördern. Um Missbrauch besser zu verhindern, sei Vorsicht bei der Auswahl von Kandidaten für das Priester- und das Bischofsamt unerlässlich. Klare Verhaltensnormen müssten definiert und eingehalten werden. Wer in der Vergangenheit im sexuellen Bereich eine Straftat begangen oder problematisches Verhalten gezeigt habe, dürfe nicht zum Priestertum zugelassen werden.
Ohne den Fall beim Namen zu nennen, spielte Scicluna damit offenbar auf den Fall des ehemaligen amerikanischen Kardinals Theodore McCarrick an, der trotz bekannter Gerüchte über vielfaches sexuelles Fehlverhalten mit Seminaristen im Jahr 2000 zum Erzbischof von Washington befördert wurde. Sein Fall verschärfte im vergangenen Sommer die weltweite Missbrauchskrise in der katholischen Kirche. Er endete vergangene Woche mit der Entlassung des Ex-Kardinals aus dem Klerikerstand.
Denkanstöße für Teilnehmer veröffentlicht
Der Vatikan hat 21 Punkte veröffentlicht, über die die Teilnehmer des weltweiten Anti-Missbrauchsgipfels diskutieren sollen. Darunter sind etwa die Einrichtung einer auch von der örtlichen Kirche unabhängigen Anlaufstelle für Missbrauchsopfer und eine Beteiligung von Laien an der Untersuchung von Missbrauchsvorwürfen und Kirchenrechtsprozessen zu sexuellem und Macht-Missbrauch.
Außerdem soll über gemeinsame Vorgehensweisen bei der Prüfung von Missbrauchsvorwürfen, beim Kinderschutz und beim Verteidigungsrecht Angeklagter gesprochen werden.
Der Moderator des viertägigen katholischen Anti-Missbrauchstreffens, Pater Federico Lombardi, sagte bei einer Pressekonferenz, die Punkte sollten den Teilnehmern helfen, konkret zu werden. Dies hatte Papst Franziskus am Morgen zu Beginn des Treffens gefordert. Im Anschluss waren als Input die von Bischofskonferenzen und Kommissionen vorbereiteten Denkanstöße verteilt worden.
In dem vom Vatikan veröffentlichten Papier heißt es, Kinderschutzrichtlinien in allen kirchlichen Strukturen sollten "auf den Prinzipien von Gerechtigkeit und Nächstenliebe basieren" und regelmäßig überarbeitet werden.
Angeregt wird auch die Erarbeitung eines "Vademecum" zum Vorgehen bei Missbrauchsfällen sowie umgehende Anzeige bei kirchlichen wie zivilen Autoritäten gemäß der jeweils geltenden Normen.
Weitere Punkte betreffen Bildungsmaßnahmen zum Erkennen und Bekämpfen von Missbrauch, zur sorgfältigen Personalauswahl in sämtlichen Bereichen der Kirche sowie den Umgang mit Opfern, Angeklagten und Schuldigen.