DOMRADIO.DE: Wie viel Religion steckt denn Ihrer Meinung nach in diesem besonderen türkischen Wahlkampf?
Aiman Mazyek (Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland): Sicherlich steckt mehr Religion in der Auseinandersetzung als wir es aus europäischer oder auch aus deutscher Sicht gewohnt sind. Ohne Zweifel ist die Türkei ein säkularer, laizistischer Staat. Aber auch ein Vielvölkerstaat, der aus vielen verschiedenen Religionen besteht. Ein großer Anteil der Menschen gehört der alevitischen Religion an. Viele der Aleviten dort fühlen sich durchaus den Sunniten zugeneigt. Manche grenzen sich ein Stück weit ab. Es ist nicht so, dass es da eine ganz harte, scharfe Trennung gibt.
Religion spielt schon eine Rolle im Wahlkampf. Sowohl CHP-Chef Kılıçdaroğlu als auch Erdoğan nutzen dies. Der CHP-Chef zum Beispiel hat gesagt, er gehört einer anderen oder einer verwandten Religionsgemeinschaft an. Gleichsam möchte er auch für alle Türken sprechen. Ein Großteil davon sind Muslime sunnitischer Prägung.
Man hat also da den Arm ausgestreckt. Das macht Erdoğan aber auch. Er spielt ebenso diese Karte aus einer religiösen, biografischen Tradition heraus aus und spricht damit insbesondere die Türken der ländlichen Bevölkerung an.
Die Städter sind, glaube ich, für solche Botschaften weniger empfänglich, aber Menschen aus dem ländlichen Bereich schon eher. Das spielt dort eine große, eine zentrale Rolle.
Den Wahlkampf insgesamt muss man schon anders lesen, als wir es vielleicht hier aus Deutschland oder in Europa gewohnt sind.
DOMRADIO.DE: Es gibt 1,5 Millionen Türken in Deutschland, die wählen dürfen. Amtsinhaber Erdoğan gilt als islamisch konservativ. Viele wundern sich, dass er in Deutschland so viele Anhänger hat. Wie passt das zusammen? Und wie, glauben Sie, kommt der neue Herausforderer bei den Deutschtürken an?
Mazyek: Ich habe den Eindruck, dass die Religion für die Deutschtürken nicht mehr so eine zentrale Rolle spielt. Vielmehr stellen die Politikfelder eine Präferenz dar. Gleichsam spielt die Polarisierung sowie das Bewusstsein, vielleicht in diesem Wahlkampf ein Zünglein an der Wage zu sein, eine Rolle.
Den großen Zuspruch, den Erdoğan noch vor vier oder fünf Jahren hatte, wird er wahrscheinlich so nicht mehr bekommen. Aber es gibt durchaus Umfragen, die eine knappe Mehrheit in Deutschland bei den Deutschtürken vermuten lässt. Dort kann er aber nicht mehr mit diesem großen Zuspruch rechnen. Das hat sicherlich mit den Verwerfungen und mit den letzten fünf Jahren zu tun.
Auf jeden Fall wird es ein sehr knappes Ergebnis. Ich weiß nicht, ob die Fokussierung auf das Ausland, insbesondere Deutschland, so entscheidend ist. Es gibt durchaus Wahlbeobachter, die davon sprechen, dass die jungen Leute in der Türkei einen großen Anteil haben.
Die demographische Struktur ist sehr von der in Deutschland zu unterscheiden. Das heißt, wir haben eine größere junge Bevölkerung. Viele gehen davon aus, dass sie das Zünglein an der Wage sind. Auf jeden Fall ist es ein sehr polarisierender, sehr scharfer Wahlkampf. Es ist mit einem sehr knappen Ergebnis zu rechnen.
Man sieht auch eine große Spaltung, die durch das Land geht. Es bleibt die Frage, ob die Spaltung nach dem Wahlausgang nicht sogar so weit gegangen ist, dass es Verwerfungen gibt. Es wird auf jeden Fall spannend.
DOMRADIO.DE: Was würde sich verändern, wenn der Herausforderer gewinnen würde?
Mazyek: Das ist die große Frage. Die stellen sich auch viele Türken. Die Wahlversprechungen hüben wie drüben sind lauthals und großspurig. Aber was bleibt am Ende davon übrig? Sind die Kandidaten in der Lage, das Land ein Stück weit zu versöhnen, wo die Spaltung schon so ersichtlich und so deutlich wird?
Das sieht man auch beim Anschlag bei Mercedes-Benz in Sindelfingen am Donnerstag, bei dem mutmaßlich unterschiedliche Positionen zu den Wahlen in der Türkei Ausgangspunkt waren. Wahrscheinlich ging ein Streit zwischen zwei Lagern voraus.
Das darf nicht sein, dass der Hass, dass die Verwerfungen, dass die Spaltung so weit geht, dass man solche Gewalt anwendet.
Man sieht daran, dass die Nerven blank liegen. Letztendlich geht es um das Land und nicht nur um die Wahlen als solche.
DOMRADIO.DE: Gibt es an der jetzigen politischen Situation in der Türkei auch etwas Positives?
Mazyek: Ja. Für die demokratische Kultur ist es allemal positiv, dass es einen Gegenkandidaten gibt, dass es eine Gegenposition, dass es so etwas wie einen Wettstreit gibt. Die früheren Zeiten haben das so nicht erlaubt.
Insofern ist es sicherlich auf lange Sicht für die Türkei positiv zu bewerten. Die Frage ist, wie stark diese Polarisierung noch anhält, je nachdem wer am Ende die Nase vorn hat.
Das Interview führte Bernd Hamer.