Missbrauch an Kindern und Jugendlichen wird aus Sicht des Kinderschutzexperten Hans Zollner in der katholischen Kirche nicht weltweit gleich thematisiert.
In den allermeisten Ländern, gerade auch denen mit einer sehr jungen Bevölkerung, "ist sexualisierte Gewalt bis heute kein die Öffentlichkeit wirklich bewegendes Thema", sagte der Jesuit im Interview des Portals feinschwarz.net. Zollner war bis 2023 Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen.
Vielerorts ein unaussprechliches Tabu
Durch seine Arbeit im internationalen Kontext sowie seine Reisen in den vergangenen 40 Jahren habe er gelernt, "die vermeintlichen Gewissheiten meiner westeuropäischen Sicht nicht für selbstverständlich zu halten", erklärte Zollner. "In den allermeisten und den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt ist es schon herausfordernd, auch nur von Sexualität an sich in Familie oder Schule, in Religionen oder der medialen Öffentlichkeit zu sprechen."
Sexuelle Gewalt sei für den Großteil dieser Gesellschaften ein unaussprechliches Tabu - "auch dort, wo die Realität andere Bände spricht, wenn man genau hinschaut". Beim Blick auf die gesamte Kirche dürfe daher nicht vorausgesetzt werden, dass alle beim Thema Missbrauch auf demselben Stand seien.
Auch in Deutschland keine systemischen Konsequenzen
Auch in Ländern wie Deutschland, wo das Thema offener angesprochen werden könne, sei die Begegnung mit Betroffenen für viele Kirchenverantwortliche und -angehörige "weiterhin so beunruhigend und unangenehm, dass sie sie vermeiden", kritisiert der Experte.
"Betroffene fühlen sich meist nicht willkommen, wollen nicht riskieren, erkannt zu werden, stehen unter Druck von Kirchenverantwortlichen, aber auch in der Familie."
Ein großes Problem liegt laut Zollner darin, dass Normen und Gesetze zu Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch in der Kirche von den Verantwortlichen nicht umgesetzt würden. "Es liegt wohl auch daran, dass immer noch auf Einzelfälle reagiert wird und keine systemischen Konsequenzen gezogen werden." Wenn es nur bei Bedauerungsbekundungen bleibe, gehe dadurch Vertrauen verloren.
"Glauben kann man nur, wenn man vertraut", so Zollner. "Vertrauen entsteht, wenn man sieht, dass jemand das tut, was er oder sie sagt und vorgibt. Wo das Gegenteil nicht nur einmal, sondern gefühlt ständig und überall geschieht (...), da wird das Fundament der Glaubwürdigkeit zerstört, und zwar nicht im Sinn einer persönlichen Bewertung."