Ein junges Mädchen hörte sehr aufmerksam zu, als der Exilminister Gerrit Boelkestein Ende März 1944 die Menschen in den Niederlanden aufforderte, ihre Erlebnisse unter der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs niederzuschreiben.
"Geschichte kann nicht allein auf der Grundlage offizieller Entscheidungen und Dokumente geschrieben werden", sagte Bolkestein bei Radio Oranje zu seinen Landsleuten. "Wenn unsere Nachkommen wirklich verstehen sollen, was wir als Nation in diesen Jahren ertragen und überwunden haben, dann brauchen wir ganz normale Dokumente - ein Tagebuch, Briefe".
Dokumentation des Krieges
Anne Frank beschloss in diesem Moment, über ihre Zeit im Versteck zu schreiben. Auf der Basis ihres Tagebuchs sollte der Roman mit dem Titel "Het Achterhuis" (Das Hinterhaus) nach dem Krieg erscheinen. Am 1. August 1944 schrieb sie zum letzten Mal in ihr Tagebuch, einige Tage später wurde sie mit ihrer Familie verhaftet.
Drei Tage nach der Befreiung der Niederlande, am 8. Mai 1945, gründete die Regierung ein Nationales Büro zur Dokumentation des Krieges in den Niederlanden und Niederländisch-Ostindien, heute als NIOD Institut für Kriegs-, Holocaust- und Völkermordforschung bekannt. Menschen aus dem ganzen Land, aus allen Teilen der Bevölkerung, gaben ihre Notizbücher, Briefe, Fotoalben und Tagebücher ab, weil sie den Aufruf von Boelkestein gehört hatten.
Tagebücher im Tresorraum
Die Sammlung umfasst mittlerweile rund 2.500 private Tagebücher; davon stammen ungefähr 400 aus Niederländisch-Indien (heute Indonesien). Immer noch kommen Neuerwerbungen hinzu, berichtet Rene Pottkamp, Mitarbeiter des Instituts. Denn wenn bei älteren Menschen der Haushalt aufgelöst werden muss, beschließen sie selbst oder ihre Nachfahren, das Tagebuch abzugeben.
Untergebracht ist die Sammlung in einem historischen Gebäude an der Amsterdamer Herengracht. Erbaut wurde es für Jacob Nienhuys, einen reichen Tabakhändler; dann zog dort 1921 die Amsterdamer Filiale der Deutschen Bank ein. In dem früheren Tresorraum, gesichert mit einer schweren Tür, werden heute die Kriegstagebücher und andere Archivalien gelagert.
Die US-amerikanische Journalistin Nina Siegal, die seit 2006 in Amsterdam lebt, kann sich noch gut daran erinnern, als ihr ein Mitarbeiter des Instituts die Kriegstagebücher zeigte. "Das war ein aufregender Tag in meinem Leben", sagt sie. Die Folge: Im vergangenen Jahr veröffentlichte sie ein Buch über die Kriegstagebücher in den Niederlanden, das schon jetzt als richtungsweisend gilt. "The War Diaries" ist in verschiedene Sprachen übersetzt worden, jedoch noch nicht ins Deutsche.
Das bekannteste Tagebuch der Welt
Das berühmteste Tagebuch aus der Zeit der deutschen Besatzung (1940-1945) ist ohne Zweifel das von Anne Frank. Die physischen Exemplare gehören dem Staat und werden im Anne Frank-Haus an der Prinsengracht gezeigt, in einem sorgfältig abgedunkelten Raum mit vorsichtiger Beleuchtung, um sie in einem guten Zustand zu erhalten.
NIOD hat die jeweiligen Tagebücher in Mappen eingeschlagen. Um sie zu schonen, werden sie digitalisiert und können zum Teil schon online eingesehen werden. Rene Pottkamp sagt, die Tagebücher hätten einen ganz unterschiedlichen Umfang - eins umfasse gerade einmal zwei Seiten.
"Chronik" mit 3.600 Seiten
Das umfangreichste Tagebuch hat Douwe Bakker (1891-1972) angelegt, ein früher niederländischer Nazi und Kollaborateur. Unter dem von ihm selbst gewählten Titel "Kronyck", also Chronik, hat er in 18 Bänden 3.600 Seiten gefüllt. Er hat aus seinem Tagebuch eine Art persönliches Nazi-Fanzine gemacht, in dem er zu seinen Einträgen Bilder und Zeitungsausschnitte eingeklebt hat.
In der Kriegstagebücher-Sammlung gibt es nach Schätzungen von Mitarbeiter Pottkamp rund 100 Tagebücher von Kindern und jungen Menschen. Das eines jungen Mädchens ragt besonders heraus, denn Lies den Houting, Jahrgang 1926, begann im August 1939 ein Tagebuch in Form eines Comic Strips zu zeichnen. Im Vordergrund steht ihr Alltag; der Krieg spielte trotz Bombardierungen und dem Hungerwinter 1944/45 eine eher untergeordnete Rolle.
Unterschiedliche Kriegserlebnisse
Ganz anders stellte sich das Leben für die jüdische Bevölkerung dar. In den Niederlanden lebten im Mai 1940, als die Deutschen das Land besetzten, rund 140.000 Juden. Relativ bald begann die Ausgrenzung, Verfolgung und dann die Ermordung in verschiedenen Konzentrationslagern im Osten Europas.
Ambivalente Gefühle gegenüber Juden bis hin zu offenem Antisemitismus finden sich in vielen Tagebüchern, stellt Rene Pottkamp fest. Nina Siegal und er erzählen beide von dem aus heutiger Sicht schier unbegreiflichen Eintrag in einem Tagebuch vom 20. Juni 1943. Es war ein Sonntag mit strahlend schönem Wetter, als die Nazis jene Wohnviertel in Amsterdam abriegelten, wo die meisten Juden lebten.
Insgesamt wurden mehr als 5.000 Juden verhaftet und deportiert. Währenddessen fuhr Cornelis Komen mit seiner Familie aufs Land, um Kirschen zu pflücken. Sie hatten einen wunderbaren Tag. Der Anblick der verzweifelten Menschen weckte Mitleid: "Sie mögen keine angenehmen Leute sein, aber sie sind immerhin menschliche Wesen. Wie kann der Gute Gott das erlauben?", zitiert Nina Siegal aus seinem Tagebuch.
Mirjam Levie - heute 107 Jahre alt
Eine von den Verhafteten war Mirjam Levie. Heute ist sie 107 Jahre alt und lebt in Israel, wo Siegal sie für ihr Buch besuchte. Die junge Frau wollte eigentlich ihrem Verlobten Leo Bolle ins britische Mandatsgebiet Palästina folgen, als die Nazis kamen. Sie saß fest.
Was sie in dieser Zeit, auch als Sekretärin des umstrittenen Amsterdamer Judenrats sowie im KZ Bergen-Belsen durchmachte, schrieb sie in Tagebuch-Briefen an ihren Verlobten auf. Ihre Briefe werden auch im Tagebuch-Archiv verwahrt.
"Wie interessant, dass die Menschen immer noch so viel über den Krieg hören wollen", sagte sie zu Siegal. Daher hat Rene Pottkamp auch beständig 90 Freiwillige an der Hand, die an dem Projekt "Adopt-a-Diary" teilnehmen. Sie übertragen die Tagebücher, damit sie digital zugänglich und auswertbar werden. Die Arbeit geht ihnen nicht aus. Es kommen schließlich immer wieder neue Tagebücher dazu.