Am Dienstag hat Rio de Janeiro sein erstes Corona-Opfer verzeichnet: eine 63-jährige Hausangestellte, die sich um ihre kranke Arbeitgeberin gekümmert hatte, die infiziert aus Italien heimgekehrt war. Hunderttausende Favela-Bewohner arbeiten in Rios Mittel- und Oberschichtsvierteln, also dort, wo sich das Coronavirus als erstes installierte. Doch während die betuchten Familien über gute Krankenversicherungen verfügen, sind die Angestellten den Gefahren der Krankheit schutzlos ausgesetzt. Eine Ausbreitung des Virus in den Armenvierteln scheint unvermeidbar.
Versorgung mit Wasser
"Wascht euch die Hände!" steht auf einem Schild am Eingang zum "Complexo do Alemao", einer Ansammlung von über einem Dutzend Favela-Slums in Rios armer Nordzone. Dort haben Anwohner einen Corona-Krisenstab gegründet. Erste Aufgabe: alle Bewohner mit Wasser zu versorgen. Denn in den meisten der 1.226 Favelas von Rio mangelt es an Trinkwasser. Das macht auch das Händewaschen schwierig. Die Stadtverwaltung helfe ihnen überhaupt nicht, klagt eine Bewohnerin des "Alemao", die sich aus Angst vor einer Infizierung mit ihren drei Kindern daheim isoliert hat.
Am Samstag wurde nun in der Cidade de Deus, der "Stadt Gottes", einer riesigen Favela in der Westzone, offiziell Brasiliens erster Corona-Fall in einem Armenviertel registriert. Doch das Virus dürfte sich schon längst weit in den Armutsvierteln verbreitet haben. Allein in Rio gibt es rund 200 Verdachtsfälle in Armenvierteln. Allerdings fehlt es in den überlasteten öffentlichen Krankenhäusern an Tests. Wie viele Favela-Bewohner trotz Symptomen erst gar nicht zum Arzt gehen, ist völlig offen. In Rio leben zwei Millionen Menschen in Slums.
Zusammenbruch des Gesundheitssystems
Bereits im Februar hatte Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta vor einer unkontrollierten Verbreitung des Virus in den Armenvierteln gewarnt. "In den Favelas leben die Menschen meist in Großfamilien eng aufeinander, und es mangelt an Abwasserkanälen." Für Ende April prognostiziert Mandetta den Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Bis dahin erwartet er Millionen Infizierte. Derzeit registriert Brasilien mehr als 1.000 Infizierte und 18 Tote; Tendenz: rasch steigend.
"Das derzeit wohl größte Problem ist, den Leuten klarzumachen, dass das Virus an ihren Haustüren angekommen ist", so Celso Athayde, Gründer der Organisation Central Unica das Favelas (Cufa), einer Nichtregierungsorganisation zur Wirtschaftsförderung in den Armenvierteln. "Wir hören von vielen evangelikalen Pastoren in den Favelas, die die Gläubigen in die Kirchen rufen und sagen: Wer an Gott glaubt, den wird dieses Übel verschonen."
Während die Straßen der Reichenviertel verwaist sind, läuft das Leben in den Favelas weiter. Da die meisten Familien dort auf wenigen Quadratmetern leben, verbringt man den Tag lieber auf der Straße. Dahinter steckt aber auch eine ökonomische Notwendigkeit, so Athayde. Denn mit einem "Lockdown" würde das Rückgrat der Favelas brechen: die vielen Kleinunternehmer und Ladenbesitzer, die die Wirtschaftskreisläufe in Schwung halten. Wenn sie ihre Läden zumachen müssten, drohe ein Domino-Effekt. "Wir leben nun mal in einem kapitalistischen System; wer kein Geld hat, ist ein Bettler."
Lebensmittelpakete für die Favelas
Das gilt auch für die normalen Arbeiter. Anders als die Mittelschicht, die derzeit noch bei voller Lohnfortzahlung zu Hause bleibt, sind die Favela-Bewohner in der Regel nicht sozial abgesichert. "Was die Menschen in diesen Tagen am meisten brauchen, ist Arbeit. Denn bald können sie ihre Mieten nicht mehr bezahlen, und auch für das Nötigste wie Essen und Wasser reicht es nicht mehr." Daheim zu bleiben sei keine Option, so Athayde. "Da geht es ums Überleben. Zwischen verhungern und sich einer Gefahr auszusetzen - da ist man dann lieber leichtsinnig."
Das Gebot der Stunde, so Athayde, sei die Versorgung der Favelas mit Lebensmittelpaketen, um den Menschen das Daheimbleiben zu ermöglichen. "Sonst installiert sich dort das Chaos." Einen Lichtblick gebe es aber, so Athayde. Viele Unternehmer hätten sich solidarisch gezeigt und organisierten bereits Hilfsaktionen für die Favelas. "Ich sehe diese Hilfsbereitschaft in ganz Brasilien, und das macht Hoffnung."