"Zuhör-Kiosk" findet Nachahmer als Zufluchtsort für Menschlichkeit

Erfolgsrezept aus Hamburg

Seit sechs Jahren betreibt Christoph Busch den "Zuhör-Kiosk" in einer Hamburger U-Bahn-Haltestelle. Das Modell hat Schule gemacht und ist in Zeiten großer Einsamkeit sehr gefragt. Busch hat in den Jahren einiges gelernt.

Autor/in:
Camilla Landbö
Autor Christoph Busch vor seinem "Erzähl-Kiosk" im Hamburger U-Bahnhof Emilienstraße. / © Michael Althaus/KNA (KNA)
Autor Christoph Busch vor seinem "Erzähl-Kiosk" im Hamburger U-Bahnhof Emilienstraße. / © Michael Althaus/KNA ( KNA )

Vor sieben Jahren mietete der deutsche Drehbuchautor Christoph Busch aus einem Impuls heraus einen leerstehenden Kiosk in der Hamburger U-Bahn-Haltestelle Emilienstraße. Gedacht war der vier Meter lange und zwei Meter breite Raum eigentlich als Schreibklause - obwohl er genau das Gegenteil eines einsamen Refugiums darstellt. Denn der Kiosk steht mitten auf dem Bahnsteig, zwischen zwei Schienen. Täglich kommen Tausende von Menschen vorbei.

Der Geschichtensammler

Busch wollte im grünen Häuschen sitzen und sich durch das geschäftige Treiben für Drehbücher oder Hörspiele inspirieren lassen, und ab und zu mal jemandem zuhören. "Geschichten sammeln, sie aufschreiben", sagt der Autor. Also hängte er ein Schild auf, mit einem großen Ohr und dem Text: "Ich höre Ihnen zu. Jetzt gleich oder ein anderes Mal." Kostenlos. Seine Idee traf auf Begeisterung, denn "heute hört einem ja keiner mehr zu", sagten einige Leute.

"Aber die Menschen traten nicht in den Kiosk, um Geschichten, sondern um ganze Leben zu erzählen", fährt Busch fort. Rasch wurde ihm klar, hier würde er nicht zum Schreiben kommen. "Schon nach wenigen Tagen ließ ich meinen Laptop zu Hause und war nur noch ganz Ohr." Er fühlte sich in die Geschichten der Menschen hinein.

Wie ein alter Freund

Kirche sollte Jugendlichen zuhören / © Romano Siciliani (KNA)
Kirche sollte Jugendlichen zuhören / © Romano Siciliani ( KNA )

Die Begegnungen und der Austausch mit unterschiedlichsten Menschen freuten Busch. Gleichzeitig wurde dem mittlerweile 78-Jährigen bewusst, wie bitter nötig viele Menschen einen Ort wie diesen haben. Der ehemalige Kiosk besteht fast ausschließlich aus Fenstern, aber die Erzählenden sitzen in einer Ecke, wo sie sichtgeschützt sind. "Anfangs wurde ich ständig gefragt: Sind Sie Pastor oder Psychologe?"

Er reagiere unvoreingenommen, sagt Busch, wie ein alter Freund - aber wie ein fremder Freund, den man nicht wiedersehen müsse. Diese Kombination aus Anonymität und Vertrautheit sei genau das, was viele brauchen. So komme es immer wieder vor, dass im Zuhör-Kiosk Geschichten zum allerersten Mal erzählt werden. Andere dagegen wurden im eigenen Freundeskreis bereits so oft erzählt, "dass sie niemand mehr hören will, also kommen sie zu mir".

"Riesiger Bedarf an Zwischenmenschlichkeit"

In der Regel sind es eher traurige, manchmal tragische Geschichten, die Busch sich anhört. Oft sind es ältere Menschen, die das Gespräch suchen, doch längst nicht nur. "Es gibt ganz allgemein einen riesigen Bedarf an Zwischenmenschlichkeit." Er habe in diesen Jahren gelernt, dass das Unglück oft aus der Kindheit komme. "Und wenn die Menschen dann erwachsen sind, sind sie bis zum Rest des Lebens damit beschäftigt, es aufzuarbeiten." Bei besonders schwerwiegenden Fällen rät er den Betroffenen, psychologische Unterstützung in Betracht zu ziehen.

Täglich habe er sechs Stunden dagesessen, erinnert sich Busch, und nach einem halben Jahr war ihm klar: Dieses Projekt kann man nicht abbrechen. Er wollte es jedoch nicht allein weiterzuführen. Also holte er andere ehrenamtliche Zuhörer und Zuhörerinnen dazu. Seither ist deren Zahl stets gewachsen; heute sind es um die 30 Freiwilligen, die sich die "Sprechstunden" tageweise aufteilen. Und es gibt nun auch Zuhör-Kioske in München, Berlin und Neustadt in Holstein, und einen zweiten in Hamburg.


Wenn das Geld fehlt

Unzählige Stunden also hat Busch bis heute zugehört. Und hat festgestellt, "dass man eigentlich jede Geschichte aufs Geld herunterbrechen kann". Damit will er sagen: "Bei ganz vielen Problemen wäre das Geld die Lösung." Einsamkeit zum Beispiel - dass Einsamkeit oft mit Geld zu tun hat, das werde vergessen. "Wenn du kein Geld hast, kannst du nicht aus dem Haus gehen", erläutert er. "Du kannst in den Wald, aber nicht ins Theater oder Kino oder ins Restaurant."

Busch räumt ein, natürlich gebe es nebst finanziellen Problemen auch psychologische. Nichtsdestotrotz, auch wenn sich jemand entscheide, zum Psychologen zu gehen: "Diejenigen, die Geld haben, kaufen sich den besten. Diejenigen, die kein Geld haben, warten ein Dreivierteljahr auf einen Therapieplatz."

In den ehemaligen Kiosk kommen auch Menschen ohne Geld, "wir laden sie auf einen Kaffee ein", sagt Busch. Ob Kaffeetrinken oder Geschichtenerzählen: Die Besucher und Besucherinnen verlassen den Zuhör-Kiosk in der Regel ein bisschen glücklicher. "Und das tut gut."

Quelle:
KNA