domradio.de: Diese Reise dürfte auf jeden Fall ein diplomatischer Drahtseilakt werden. Schließlich will Merkel am Flüchtlingsdeal mit der Türkei festhalten und Erdogan nicht verprellen. Was meinen Sie, welcher Raum für kritische Anmerkungen etwa zu den Menschenrechten bleibt der Kanzlerin da überhaupt?
Sven-Joachim Irmer (Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei): Das werden die Gespräche zeigen. Es sind wahrscheinlich wenige Menschen bei den Gesprächen zwischen den beiden dabei. Sie trifft zudem noch den Premierminister. Da wird schon Raum für kritische Äußerungen sein. Ich glaube, dass auch die türkische Seite eine Menge Forderungen vorbringen und auch ihre Sicht der Dinge darlegen wird. Es wird ein interessantes Gespräch werden, was hoffentlich in vielen Punkten auch zu Lösungen führt, so dass Drohungen wie die Auflösung des Flüchtlingsdeals in Zukunft nicht mehr stattfinden.
domradio.de: Seit dem Putschversuch hat die türkische Regierung fast 100.000 Beamte entlassen, fast 40.000 sitzen in Haft. Auch 151 Journalisten sitzen im Gefängnis, so viele wie nie zuvor in der Türkei und in keinem anderen Land der Welt. Ist die Türkei überhaupt noch ein Rechtsstaat?
Irmer: Diese Diskussion gibt es immer wieder und hat seit September 2016 noch zugenommen. Wir müssen genau schauen, wie diese Gerichtsverfahren laufen, wer verurteilt wird, wie die Begründungen aussehen. Die türkische Justiz ist natürlich aufgefordert, schnell die Anklageschriften zu erstellen und transparente und faire Verhandlungen zu gewährleisten. Daran besteht gar kein Zweifel. Das ist auch von hiesiger Seite von vielen Teilen gewollt. Da müssen wir nun schauen, wie es weitergeht. Man darf nicht vergessen, dass hier bis April immer noch der Ausnahmezustand herrscht. In diesem Ausnahmezustand sind viele Dinge möglich, die sonst nicht möglich sind.
domradio.de: Kann es sich Europa vor diesem Hintergrund moralisch leisten, am Flüchtlingsdeal mit Ankara festzuhalten, solange all diese Fragen nicht geklärt sind?
Irmer: Was ist denn die Alternative? Auch die Türkei profitiert in Teilen von diesem Deal, denn die Flüchtlingszahlen gehen auch hier runter. Europa profitiert ebenso. Die Frage ist doch, was Europa sonst alternativ entwickeln könnte? Gibt es eine Lösung in dieser dramatischen Flüchtlingsfrage ohne die Türkei? Da gibt es also viele Fragezeichen, die die Seiten Deutschland, Europa und die Türkei lösen müssen. Das wird wahrscheinlich auch ein Bestandteil der Gespräche der Bundeskanzlerin in der Türkei sein.
domradio.de: Jetzt gibt es auch noch die Nachricht einer geplanten Bildungsreform an türkischen Schulen, die Beobachter als "Islamisierung" des Lehrplans werten. Demnach sollen Darwin und seine Evolutionstheorie sowie Atatürk von den Lehrplänen verschwinden. Was wissen Sie darüber?
Irmer: Das, was als Meldungen durch die deutschen und türkischen Medien geht, ist mir bekannt. Es lässt natürlich aufhorchen. Wenn man genauer hinschaut, gibt es auch eine Reaktion des türkischen Bildungsministeriums, die besagt, man wolle wettbewerbsfähiger sein. Was in diesem Zusammenhang bislang nicht thematisiert wurde und als durchaus positiv zu werten ist, ist das Vorhaben, sogar ab der ersten Klasse Schüler im Fach Unternehmensführung zu unterrichten. Natürlich lassen die anderen Dinge zunächst einmal aufhorchen. Aber da muss man schauen: Die Änderung des Lehrplanes ist noch nicht final abgeschlossen. Eltern können auch ihre Vorschläge einbringen. Da geht die Frist nach meiner Kenntnis bis zum 9. Februar. Dann müssen wir schauen, wie es weitergeht. Da sind wir noch nicht am Ende der Diskussion.
domradio.de: Wenn Sie an Merkels Stelle wären: Mit welcher Strategie würden Sie in die Türkei reisen?
Irmer: Da ich kein Politiker bin, habe ich eine andere Perspektive als die Kanzlerin. Ich glaube, Angela Merkel braucht meine Ratschläge nicht. Das, was sie will und was ihrer Vision entspricht, ist, den Dialog mit der Türkei aufrecht zu erhalten – und das gegen alle Widerstände, Unkenrufe und dem momentan nicht leichten politischen Fahrwasser. Dass sie das macht, ehrt sie. Es ist auch ein Zeichen, dass sie sagt, die Türkei nehme eine Sonderrolle ein. So würde ich auch daran gehen: den Dialog mit der Türkei – egal, wie schwer das politische Wetter gerade ist – nicht abbrechen lassen. Ihr Besuch ist ein wichtiger Baustein in den deutsch-türkischen Beziehungen – gerade jetzt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.