Diakonie-Chef sieht Situation in Pflegeheimen dramatisch

"Zuständigkeitschaos abstellen"

"In den Einrichtungen ist die Angst vor der zweiten Welle groß." Diakonie-Präsident Ulrich Lilie hält die Situation in deutschen Pflegeheimen für dramatisch und fordert umfassende Reformen. Die Politik solle entsprechend reagieren.

Desinfektionsmittelspender in einem Altenheim / © Jonas Güttler (dpa)
Desinfektionsmittelspender in einem Altenheim / © Jonas Güttler ( dpa )

"Es fehlt weiterhin flächendeckend an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Eine einheitliche bundesweite Linie für Testungen gibt es ebenfalls noch nicht", sagte der Chef des zweitgrößten deutschen Sozialverbands der "Welt".

"Die Leute wissen nicht, ob sie so eine Situation noch einmal aushalten würden. Am erschreckendsten ist aber, wie folgenlos all diese Erfahrungen bisher geblieben sind."

Erfahrungen nicht ausgewertet worden

Aus Lilies Sicht sind die Erfahrungen aus der "ersten Welle" bisher nicht systematisch ausgewertet worden: "Es werden keine Schlüsse gezogen für die nächste Krise. Das besorgt mich sehr." Zu den größten Fehlern zählt er eine "mangelhafte Absprache zwischen Gesundheitsämtern, Ministerien, Kommunen und dem Robert-Koch-Institut (RKI)".

Diakonie-Präsident Lilie / © Norbert Neetz (epd)
Diakonie-Präsident Lilie / © Norbert Neetz ( epd )

Das "Zuständigkeitschaos und die widersprüchlichen Regelungen" seien allesamt "auf Kosten der Menschen" gegangen, so der Diakonie-Chef weiter: "Das muss jetzt abgestellt werden. Das RKI muss mit den Gesundheitsämtern Leitlinien entwickeln, damit alle wissen, wie sie künftig mit dem Infektionsgeschehen umgehen müssen."

Für problematisch hält er auch Versuche von Politikern, die Corona-Bekämpfung zur Profilierung im Vorwahlkampf zu nutzen: "Zu den größten Fehltritten in diesem Zusammenhang gehört die Pflegeprämie." Diese sei nur an einige wenige gegangen, "während andere in die Röhre gucken mussten, die in den Einrichtungen genauso hart gearbeitet haben".

Systematische Aufwertung der Pflegeberufe

Zu einer echten Anerkennung gehöre aber mehr als ein einmaliger Bonus. Nötig ist aus Lilies Sicht eine systematische Aufwertung der Pflegeberufe - "durch eine bessere tarifliche Bezahlung und zugleich durch eine tief greifende Strukturreform der Pflegeversicherung. Die ist in ihrer jetzigen Form am Ende."

Zum Beispiel lägen die Eigenanteile in Pflegeheimen oft so hoch, dass sie mit einer Durchschnittsrente kaum zu bezahlen seien: "Wir brauchen einen kalkulierbaren Eigenanteil, den man früh absichern kann und der für die meisten bezahlbar ist."

Die Spitzen der Koalition, so Lilie, sollten rasch ein Reformkonzept für die Finanzierung der Pflege vorlegen: "Ich fürchte aber, dass es dem beginnenden Wahlkampf geopfert wird und sich keiner daran die Finger verbrennen möchte."

Zahlen und Daten zur Situation der Pflege

Die große Mehrheit der Pflegekräfte ist weiblich: Vier von fünf Erwerbstätige in der Alten- und Krankenpflege sind Frauen.

57 Prozent der Erwerbstätigen in diesem Bereich arbeiten in Teilzeit oder sind geringfügig beschäftigt. 

Es gibt einen wachsenden Anteil ausländischer Pflegekräfte.

In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Beschäftigten, die über ein Leiharbeitsunternehmen in der Pflege tätig sind, zugenommen.

Symbolbild Pflege / © Halfpoint (shutterstock)
Quelle:
KNA