DOMRADIO.DE: Sie sind seit Anfang November unterwegs in Deutschland auf einer Lesetour zugunsten der Hochwasserhilfe Ahr – mitgebracht haben Sie Ihr Buch "Ungehobelte Gebete" und Jerusalemer Gedichte aus Ihrem Buch "...träume ich von Flügeln". Die letzte Lesung wird dann in Jerusalem stattfinden. Die Idee dahinter: Ich muss etwas tun. Ich muss helfen. Das liegt auf der Hand. Wie ist die Idee zur Lesetour dann geboren?
Msgr. Stephan Wahl (Priester aus dem Bistum Trier, der seit 2018 in Jerusalem lebt und arbeitet): Ich war sehr überrascht von der Reaktion auf den "Ahr-Psalm", den ich geschrieben habe und der auch in der offiziellen Feier im Aachener Dom einen großen Platz hatte, der für mich auch der Weg war, überhaupt mit dieser Katastrophe ein bisschen in der Ferne zurechtzukommen.
Ich stamme selber ja von der Ahr, genauer gesagt von der Ahrmündung, Remagen-Kripp, wo die Ahr in den Rhein fließt. Ich habe viele Bekannte, die davon betroffen sind. Ich habe sogar leider einen Toten in der Verwandtschaft, der im Lebenshilfehaus in Sinzig umgekommen ist. Und ich hätte gerne in Jerusalem selber mir die Stiefel angezogen und hätte mitgeholfen, aber das war ja gar nicht möglich. Es war auch nicht möglich, da hinzufliegen durch die Corona-Maßnahmen etc.
So kam es dazu, dass ich versucht habe, über Texte das auszudrücken, was mir wichtig ist und vielleicht dadurch auch etwas in Sprache zu bringen, was manche vielleicht dann als Betroffene nicht so in Sprache bringen konnten. Daraus ist dann die Idee erwachsen: Wenn ich jetzt im November die Möglichkeit habe, nach Deutschland zu gehen, dass ich da an ein bis zwei Abenden davon erzähle und aus diesen Psalmen diesen neuen Psalm lese und vielleicht auch aus den Texten, die in der letzten Zeit oder in den letzten Jahren in Jerusalem entstanden sind. Dass daraus jetzt elf Termine wurden, habe ich nicht überschaut.
Ich habe jetzt gerade gestern den fünften hinter mir – in Adenau, also in der Nähe von der Ahr. Ich habe gestern zum ersten Mal die Katastrophen wirklich an der Ahr auch gesehen, in Ahrweiler selbst und weiter hoch die Ahr gefahren nach Altenburg. Ich habe es auf Fotos gesehen, ich habe es von Erzählungen mir nahe kommen lassen, aber es mit eigenen Augen zu sehen ist einfach auch jetzt, so viele Monate nach der Katastrophe, unvorstellbar schauderhaft.
DOMRADIO.DE: Ausdruck der Trauer, der Hilflosigkeit sind dann Ihre neuen Psalmen, die in Jerusalem entstanden sind. Die tragen Sie auch vor. Sie haben eigens aus diesem Anlass den "Ahr-Psalm" geschrieben. Den haben Sie gerade schon angesprochen. Darin schreiben Sie: "Schreien will ich zu dir, Gott, mit verwundeter Seele, doch meine Worte gefrieren mir auf der Zunge." Und später geht es weiter. "Der Bach, den ich von Kind an liebte, sein plätscherndes Rauschen war wie Musik, zum todbringenden Ungeheuer wurde er, seine gefräßigen Fluten verschlangen ohne Erbarmen. Alles wurde mir genommen. Alles! Weggespült das, was ich mein Leben nannte." Zu welchem Zweck genau haben Sie den "Ahr-Psalm" geschrieben? Hilft er den Menschen vor Ort?
Wahl: Ich habe ihn eigentlich zweckfrei geschrieben. Als er gelesen wurde von einer Schauspielerin im Aachener Gedenkgottesdienst, haben viele gesagt, die habe das viel zu dramatisch und pathetisch vorgetragen. Hat sie nicht. Sie hat ihn genau so emotional vorgetragen, wie ich ihn geschrieben habe. Er war erst mal ein Ausdruck von dem, was mir selber durch den Kopf ging: Wie soll man das auf die Reihe kriegen, dass so ein schreckliches Unglück passieren kann? Und wie kriegt man das zusammen mit dem Glauben an Gott, mit seiner eigenen Religion, mit seiner Kirchlichkeit? Wie kriegt man diese Spannung überhaupt ausgehalten? Man kann sie nicht versöhnen, man kann sie nur aushalten.
Ich habe dann vielleicht auch ausgehend von meinem Leben in Jerusalem und der Nähe auch zur jüdischen Religion mich erinnert an die Klagepsalmen. Es sind ja nicht nur fröhliche Psalmen, die das Psalterium kennt, sondern auch die Auseinandersetzungen der jüdischen Religion mit ihrem Gott. Die gehen da mit ihm viel direkter um als wir manchmal. Es ist eben nicht nur der liebe Gott, sondern es ist auch der geheimnisvolle Gott und der rätselhafte Gott. Warum kann er das zulassen?
Für mich ist eines der wichtigen Worte aus "Joseph und seine Brüder" von Thomas Mann: Gott ist nicht das Gute, er ist das Ganze und er ist heilig. Und das Ganze umfasst wirklich alles, auch dasjenige, was wir bei Gott nicht auf die Reihe bekommen.
DOMRADIO.DE: Was möchten Sie den Menschen durch Ihre Lesungen an den Abenden mitgeben?
Wahl: Es sind ja nicht nur Klagepsalmen, die ich lese, es sind ja auch Trosttexte dabei. Es sind auch Texte, die vielleicht Dinge verbalisieren, die man sonst selber nur im Herzen oder im Kopf hat. Ich möchte das tun, was vielleicht auch jetzt zwischendurch als Resonanz nach den Lesungen kam, dass Leute sich angesprochen fühlen mit den inneren Gedanken, die sie selber haben und die sie vielleicht nicht in Worte bringen können. Und dass das vielleicht dann in Worte gebracht ist und dadurch auch, wenn es ausgesprochen ist, vielleicht ein bisschen hilft.
Das ist eine überschaubare Hilfe. Die wirkliche Hilfe sind die Leute, die wirklich mit Händen und Füßen anpacken, die da sind, die ihre Schulter geben. Aber manchmal können Worte auch – vielleicht nicht heilen, aber auch ein bisschen Trost und Halt geben.
DOMRADIO.DE: Jetzt waren Sie schon in Sinzig, im Trierer, im Limburger und im Wetzlarer Dom. Nächste Woche Dienstag kommen Sie auch nach Köln. Jede Ihrer Lesungen wird mit musikalischen Intermezzi begleitet. Welche Begegnungen haben Sie denn auf Ihrer bisherigen Tour schon gemacht? Gibt es da ein besonderes Ereignis?
Wahl: Jeder Abend war anders – auch von der Beteiligung. Es kommen natürlich jetzt auch noch mal bei vielen Leuten diese Sorgen durch die steigenden Inzidenzwerte hinzu, dass man an solchen Veranstaltungen teilnimmt. Aber ich habe einen wunderbaren Abend gehabt im Trierer Dom, der sehr gut besucht war mit wunderbaren Orgel-Improvisationen, in Sinzig genauso. In Limburg war eine Bratschistin dabei, die den Ahrpsalm auch begleitet hat und dazu improvisiert hat.
Das sind auch Momente, wo ich dann noch mal auch bewegt bin und profitiere. Ich habe auch mit dem Künstler telefoniert, der in Köln dabei sein wird. Das wird ganz spannend. Und zwar ist das Tom Schönwald, der spielt Alphorn – in einer anderen Weise, wie man normalerweise wahrscheinlich Alphorn in den Vorstellungen hat. Der wird diese Lesung begleiten, und da bin ich sehr, sehr gespannt drauf, wie er auf die Texte reagiert.
Das Interview führte Katharina Geiger.