Briten kehren Europa den Rücken

Und sie trauen sich doch

David Cameron hat mit dem Feuer gespielt - und sich verbrannt. Die Briten wagen den Sprung ins Ungewisse. Was wird aus Europa?

Autor/in:
Peer Meinert
Die Briten stimmten für einen Brexit / © EPA/HANNAH MCKAY (dpa)
Die Briten stimmten für einen Brexit / © EPA/HANNAH MCKAY ( dpa )

Sie haben es getan, sie haben es gewagt. Eiskalt haben die Briten die Tür zu Europa zugeknallt. Alle Warnungen haben nichts genutzt. Ob US-Präsident Barack Obama, der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die eigenen Banker in der Londoner City - alle Warnungen vor einem Brexit konnten die Briten nicht schrecken. "Die EU wird nie mehr sein, wie sie war", titelte die "Times" am Morgen des Schicksalstages - sie sollte recht behalten. Und nun: Mega-Krise in Brüssel, Wirtschaftskrise in Großbritannien, baldiger Rücktritt von Premierminister David Cameron?

Zitterpartie pur

Die Nacht der Nächte - es war eine Zitterpartie pur. Erst sagte das angesehene YouGov-Institut einen Sieg des Pro-Europa-Lagers voraus, der Rechtspopulist Nigel Farage räumte schon praktisch seine Niederlage ein, das britische Pfund stieg an den Finanzmärkten. Doch dann, langsam aber stetig, wendete sich das Blatt. Zug um Zug fuhren die Brexit-Leute Gewinne ein, selbst dort, wo das EU-Lager vorne lag, fiel der Vorsprung deutlich schmaler aus als erwartet. Die Märkte reagierten prompt, innerhalb weniger Stunden fiel das Pfund auf den tiefsten Zeit seit Jahrzehnten.

Als schließlich die Sonne über London aufging, war klar: Die Stunde des Brexits hat geschlagen. "Befreiung Großbritanniens vom Diktat Brüssels", wie es die Austrittsfans gerne nennen? Oder der sichere Weg in Wirtschaftskrise, Jobverluste und Währungsverfall, wie das Pro-EU-Lager prophezeit? Noch im Morgengrauen bauten die TV-Crews ihre Kameras vor Downing Street 10 auf. Kein leichter Gang für Cameron. Der Premier hat sich gründlich verzockt. 2013 hatte er das Referendum ins Spiel gebracht - Ziel war damals, Widersacher und EU-Kritiker in den eigenen Reihen ruhigzustellen.

Spiel mit dem Feuer

Camerons Wahlkampf-Strategie war von Beginn an gewagt, ein Vabanquespiel, ein Spiel mit Feuer: Noch vor Monaten ließ er kein gutes Haar an der EU, dann, nach einigen "Reformen" und Zugeständnissen aus Brüssel, mutierte er über Nacht zum EU-Fan. Sonderlich glaubwürdig war das nicht.

Die Frage ist: Was hat die Briten trotz aller Warnungen zum "No" zu Europa getrieben? Lange Zeit hätte sich kaum jemand träumen lassen, dass das Rausgehen-Lager jemals eine Mehrheit erzielen würde. Doch dann holten die Brexit-Leute mächtig auf: In den vergangenen Wochen war es vor allem das Thema Migration, mit dem sie punkten konnten.

Die Flüchtlingsströme in Europa, die Migranten aus der EU - es war das Angstthema, das die Menschen ganz ähnlich auch in anderen Ländern umtreibt. In Skandinavien, in Frankreich, in Deutschland. Zugleich war es ein Thema, wie geschaffen, um Emotionen anzuheizen, Vernunft und Argumente ins Abseits zu drängen. Und es war nicht nur der rechtspopulistische Nigel Farage, der auf dieser Klaviatur spielte.

Europa nicht in Top-Form

Das Grundproblem: Selbst eingefleischte EU-Fans müssen zugeben, dass Europa in den vergangenen Monaten und Jahren nicht gerade in Top-Form war. Eurokrise, Flüchtlingskrise, mickriges Wachstum - will man einem solchen Club unbedingt angehören? Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die Briten - das Volk der Pragmatiker und Anti-Ideologen - ausgerechnet diese Briten schlitterten in einen Konflikt, der in einen Glaubenskrieg ausartete, der immer härter, immer verbissener geführt wurde.

Krude Sprüche, wilde Polemik und unhaltbare Anschuldigungen hatten ihre große Stunde. Boris Johnson, der wortgewaltige Brexit-Anführer, verglich das Einigungsbestreben der EU gar mit der Eroberungspolitik Hitlers und Napoleons. Es war die Stunde der Populisten und ihrer wilden Versprechungen: "Independence Day" nannte Johnson den Wahltag - "Unabhängigkeitstag", als sei Großbritannien eine Sklavenkolonie der "Brüssel-Diktatur".

Doch auch Cameron setzte auf Panikmache, gebetsmühlenhaft wiederholte er, dass die Wirtschaft beim Brexit geradewegs den Bach runtergehe, jonglierte mit Zahlen über Jobverluste, Wirtschaftseinbruch und Investitionsrückgang. Doch gegenüber den vermeintlichen Wunderheilern aus dem Brexit-Lager wirkte er blass, wie eine Krämerseele, ein Getriebener. Es ging um mehr als um Wirtschaftszahlen und Wachstumsziffern, es ging bei dem Votum um etwas Tiefgründigeres. Johnson und seine Leute nennen es "Souveränität", wieder "Herr im eigenen Haus" sein. Klingt schwammig - und ein bisschen nach altem Empire-Feeling.

Bedürfnis nach nationaler Identität

"Hinter dem gegenwärtigen Aufruhr lauert ein verzweifeltes Bedürfnis nach nationaler Identität", meint der Autor Geoffrey Wheatcroft im Londoner "Guardian". Die Briten, dieses Inselvolk, das noch vor gar nicht so langer Zeit weite Teile des Globus beherrschte - was ist jetzt ihre Rolle in der Welt? "Der Euroskeptizismus reicht vom kruden Rassismus über Abneigung gegenüber Immigranten bis zu ärmlichem Patriotismus und Sehnsucht nach imaginären versunkenen Zeiten", meint Wheatcroft.

Und nun? Die EU steht vor der schwersten Krise ihrer Geschichte. "Business as usual", einfach Weitermachen wie bisher, ist wohl kaum möglich, das räumte schon Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ein, der einen Kurswechsel forderte. Doch wie soll der neue Kurs aussehen? Und Cameron, der große Verlierer? Er selbst betonte bis zuletzt,  er werde in jedem Fall weitermachen. Ob ihm das gelingt, ob es nicht doch zu einer Palastrevolte der Tories kommt, bleibt abzuwarten. Oder schlägt gar schon bald die große Stunde von Boris Johnson?

Doch der Ex-Londoner Bürgermeister, der Mann mit den blonden Strubbelhaaren, überraschte bereits mit einem verwegenen Vorschlag: Cameron solle erstmal im Amt bleiben - und die Austrittsverhandlungen mit Brüssel führen. Das hätte für das Brexit-Lager einen nicht unerheblichen Vorteil: Sie hätten einen Sündenbock, falls die Austrittsbedingungen nicht gar so rosig ausfallen sollten, wie sie es immer versprochen haben. 


Die Briten entschieden sich für einen Brexit / © Michael Kappeler (dpa)
Die Briten entschieden sich für einen Brexit / © Michael Kappeler ( dpa )
Quelle:
dpa