domradio.de: In der Hauptstadt Caracas haben gestern Hunderttausende Menschen für die Absetzung des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro demonstriert. Die Protestanten wollten ein zügiges Referendum gegen Maduro erwirken. Dem Nachfolger des charismatischen, verstorbenen Hugo Chavez wird vorgeworfen, er habe das Land komplett heruntergewirtschaftet. Zudem schwindet sein Rückhalt im Volk. Als "Marsch auf Caracas" wurde der Protest tituliert. Maduro-Anhänger hatten eine Gegendemonstration angekündigt. War es denn einigermaßen friedlich?
Reiner Wilhelm (Venezuelareferent beim katholischen Lateinamerikahilfswerk Adveniat): Es gab zum Abschluss der Proteste kleinere Scharmützel, aber an sich ist die Demonstration wider Erwarten sehr, sehr friedlich verlaufen. Man hatte es aber von vornherein darauf angelegt, nicht mit der Gegenseite in Kontakt zu kommen, nicht zu provozieren und die Sache wirklich in Frieden ablaufen zu lassen.
domradio.de: Was werfen die Demonstranten dem Präsidenten denn vor?
Wilhelm: Die Situation im Land ist katastrophal. Es gibt kaum Nahrungsmittel, die Medikamente sind fast ausgegangen, die Kriminalität ist immens gestiegen. Die Menschen werfen Maduro ganz einfach Unvermögen vor.
domradio.de: Wie schätzen Sie das ein: Sind die Maduro-Gegner mit ihren gestrigen Aktionen ihrem Ziel näher gekommen, zügig ein Referendum über die Absetzung des Präsidenten zu erwirken?
Wilhelm: Das Referendum wird sicherlich stattfinden. Die Frage ist nur wann. Präsident Maduro spielt auf Zeit. Denn wenn das Referendum nach dem 10. Januar stattfindet, dann wird der Chavismus an der Macht bleiben, also der Politikstil von Maduros verstorbenem linkspopulistischem Amtsvorgänger Hugo Chavez. Denn dann geht sozusagen die Macht des jetzigen Präsidenten auf seinen Vize-Präsidenten über. Das wollen die Demonstranten verhindern, sie wollen Neuwahlen. Dafür aber muss ein Referendum noch vor dem 9. Januar durchgeführt sein. Das ist der Hauptgrund, weshalb es zu diesen Massenprotesten gekommen ist. Denn die Wahlbehörde, die den Termin festlegt, sagt, dass die Maduro-Gegner erst ab Ende Oktober Unterschriften für das Referendum sammeln dürfen. Und das ist einfach viel zu spät!
domradio.de: Sie hatten schon angedeutet, dass die wirtschaftliche Lage im Land desaströs ist. Wie äußert sich das im Alltag der Menschen?
Wilhelm: Man muss sich das so vorstellen, dass die Menschen pro Monat etwa 34 Stunden nur damit verbringen, Schlange zu stehen. Wenn man durchs Land fährt, sieht man überall diese Schlangen vor den Läden der großen Supermarktketten. Als ich vor kurzem vor Ort war, habe ich jemanden gefragt: "Was gibt es denn hier?" Und dann hat er geantwortet: "Da ist gerade ein LKW gekommen mit irgendetwas. Was der mitgebracht hat, weiß kein Mensch. Aber alle stellen sich sofort an, um etwas davon abzubekommen."
domradio.de: Wie steht die katholische Kirche zur aktuellen Situation?
Wilhelm: Die katholische Kirche ist natürlich auch betroffen. Sie ruft immer wieder zur Mäßigung auf, sie ruft immer wieder zu Dialog und Verhandlungen auf, die aber in Wirklichkeit nicht gesucht und nicht gefunden werden.
domradio.de: Aber im Vorfeld der Demos hatten Kirchenleute die Menschen zur Teilnahme ermutigt?
Wilhelm: Ja. Sie haben gesagt: "Jeder Mensch, jeder Bürger des Landes hat ein von der Verfassung verbrieftes Recht zu demonstrieren und seine Meinung frei zu äußern." Und so haben sie dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen und dann für den Frieden zu demonstrieren, gegen diese Gewalt und für eine Veränderung dieser Situation.
Das Gespräch führte Verena Tröster.