domradio.de: Den Hilfsorganisationen in Syrien geht es ja vor allem um Ersthilfe, also den Menschen Essen, Medizin und Kleidung zu geben. Für die Kinder spielt aber auch Bildung eine Rolle. Haben die Kinder denn für so etwas wie zur Schule gehen noch einen Kopf, nach all dem, was sie erlebt haben?
Ninja Charbonneau (Pressesprecherin UNICEF Deutschland): Auch wenn man sich das von hier aus schwer vorstellen kann, ist das immer eines der ersten Dinge, die die Kinder erwähnen, wenn sie auf UNICEF-Mitarbeiter treffen. Das allererste sind natürlich Nahrung und Wasser, aber sofort danach kommt die Frage: "Wann können wir endlich wieder in die Schule gehen?"
Denn 1,7 Millionen Kinder in Syrien konnten zuletzt gar nicht in die Schule gehen. Man muss aber hinzufügen, dass immerhin noch zwei Millionen Kinder trotz der Umstände weiter zur Schule gehen konnten; sei es in Notschulen, Containern, teilweise in Kellern, wie auch immer. Das zeigt, wie wichtig es den Kindern ist, denn sie wissen, dass ihre Zukunft auf dem Spiel steht. Genauso wichtig ist es für sie, auch einfach mal mit ihren Freunden zusammen zu sein, mal was anderes zu sehen und zu hören. Es sind ja auch Kinder.
domradio.de: Schule findet dann vielerorts in Zelten unter sehr schwierigen Bedingungen statt: Was genau bringen Sie den Kindern bei?
Charbonneau: In erster Linie geht es um die Hauptfächer. Das sind Mathe, Arabisch, Naturwissenschaften und Englisch. Wir haben zusammen mit dem Bildungsministerium einen Kurs entwickelt für die vier Fächer, die auch außerhalb der Schule unterrichtet werden können, zum Beispiel zu Hause unter Anleitung eines Erwachsenen oder in Gemeindezentren. Es gibt viele Freiwillige, die sich diesen Selbstlernkurs vorgenommen haben und mit den Kindern weiterlernen. Das Ziel ist, die Bildung nicht abreißen zu lassen. Denn je länger diese Phase dauert, in der jemand nicht zur Schule geht, desto schwieriger ist es dann, danach wieder in das Schulsystem integriert zu werden.
domradio.de: Im Fall von Aleppo haben wir es jetzt mit einer Stadt zu tun, die in weiten Teilen beinahe dem Erdboden gleichgemacht wurde. Da muss ja jetzt auch langfristig etwas passieren. Gibt es schon einen Plan für einen Wiederaufbau der zweitgrößten Stadt des Landes?
Charbonneau: Ich glaube, es ist noch zu früh, um von "Wiederaufbau" zu sprechen. Aber wir sehen, dass schon jetzt viele Familien in den Ostteil der Stadt zurückgekehrt sind. Zum Teil sind sie in die Gebiete zurück, die tatsächlich fast dem Erdboden gleich sind, wo sie jetzt in Ruinen und halbfertigen Gebäuden leben. Das heißt, es muss nun erst mal der ganze Schutt beseitigt werden, es muss geschaut werden, wo man überhaupt noch leben kann. Das zweite ist, dass die Gebiete, die frisch umkämpft waren, teilweise auch stark verseucht sind mit Mienen und Blindgängern. Die sind gerade für Kinder eine große Gefahr. Die sehen dann ein interessantes Objekt auf dem Boden liegen und wissen nicht, was das ist. Darum veranstalten wir in den Notunterkünften Aufklärungen, um die Kinder und Eltern vor den Gefahren zu warnen.
domradio.de: Das sind sehr grundlegende Aufgaben, die da auf sie warten. Kann man in irgendeiner Form eine Prognose wagen, ab wann wir es im Fall Aleppo wieder mit einer funktionierenden Stadt zu tun haben werden?
Charbonneau: Also wenn ich eine Kristallkugel hätte, würde ich das natürlich beantworten. Wir wünschen uns, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet wird und dass es so schnell wie möglich wirklich Frieden gibt. Das ist das Dringendste für die Kinder, damit sie eine Hoffnung für die Zukunft haben und nicht immer in ständiger Angst leben müssen. Das nächste ist, dass wir die lebensrettende Nothilfe weiterführen müssen: Also die Menschen mit Unterkünften, Trinkwasser, medizinischer Hilfe und mit Lebensmitteln versorgen.
Dass die Kinder zur Schule gehen können ist auch wichtig, das gibt ihnen auch Halt und Struktur, denn sie brauchen auch psychosoziale Betreuung, um die Erlebnisse der letzten Monate, teilweise Jahre, zu verarbeiten. Das bildet dann auch schon den Übergang für eine langfristige Hilfe. Denn die Kinder sind der Schlüssel dafür, dass es dem Land dann irgendwann wieder besser geht.
domradio.de: Viele Menschen auch hier in Deutschland wollen helfen. UNICEF nimmt aber zum Beispiel keine Sachspenden an. Warum?
Charbonneau: Das hat zwei Hauptgründe: Erstens ist es wahnsinnig aufwendig, Sachspenden anzunehmen. Die müssen sortiert werden, man braucht viel Lagerplatz, dann müssen sie nach Syrien geschafft werden - das ist ein riesiger logistischer Aufwand, der auch sehr viel Kosten verursacht. Das heißt, auch wenn das sehr gut gemeint ist - und ich finde es toll, dass Menschen etwas abgeben wollen - hilft uns das momentan nicht. Was uns wirklich hilft, sind Geldspenden. Wir besorgen dann die Winterkleidung für die Kinder vor Ort. Die wird auch dort produziert und das ist der zweite Grund, weshalb wir so vorgehen: Damit stärken wir auch die lokale Wirtschaft. Das sind vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, die über jeden Auftrag froh und dankbar sind und auch das ist ein Beitrag zur Hilfe in Syrien.
Das Interview führte Christoph Paul Hartmann.
Den ersten Teil des Interviews mit UNICEF finden Sie hier.