Zum Gottesdienst von Andreas Mähler sind Diebe, Vergewaltiger und Mörder gekommen. Junge tätowierte Männer in Badeschlappen und eng anliegenden T-Shirts. Ältere in Anstaltspullovern sitzen schüchtern in den kahlen Kirchenbänken. Drei Gefängnisbeamte behalten alles im Blick. Diakon Mähler verbeugt sich tief vor dem Altar und lädt dann die 60 Männer ein, vor einer geschnitzten Marienfigur Kerzen aufzustellen. "Wir dürfen alles Dunkle zu Gott bringen. Er wendet sich von niemandem ab", sagt der Gefängnisseelsorger.
Erreicht diese Botschaft die Gefangenen? Viele entzünden eine der kleinen gelben Kerzen. Am Ende der Gottesdienstfeier nimmt sich fast jeder eine Rose mit zurück in die Zelle. Krachend fällt die schwere, mit einem Hochsicherheitsschloss gesicherte Kirchentür hinter den letzten zu. "Die Gottesdienste sind eine kleine Insel der Freiheit im Gefängnisalltag", sagt Mähler.
Seit fast drei Jahren ist der Familienvater katholischer Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Freiburg. 600 Männer sitzen hier ein, viele nach schweren Delikten mit langen Haftstrafen. "Ich bin nicht hier, um zu verurteilen, sondern um jedem, der zu mir kommt, zuzuhören und ihm in dunklen Zeiten beizustehen." Aber wie kann man als Seelsorger einem Mann begegnen, der seine Ehefrau getötet und im Wald verscharrt hat?
Mählers Büro liegt am Ende eines langen Zellentrakts. Ein helles, geräumiges, dabei recht nüchtern eingerichtetes Zimmer mit großem vergittertem Fenster. Manche nennen es "Saal der Tränen". Fast jeden Tag führt der 53-Jährige hier Einzelgespräche, organisiert Bibelrunden oder einen Gefangenenchor.
Unabhängiger Ansprechpartner
"Es ist wichtig, im Gefängnis einen unabhängigen Ansprechpartner zu haben. Der Pfarrer hat mich oft getröstet", sagt Antonio E. Er sitzt seit zwei Jahren wegen eines Gewaltdelikts und wartet auf seine Abschiebung nach Italien. An die Wände seiner kleinen Zelle hat er Fotos von Regenbögen, Sonnenaufgängen und Wasserfällen gehängt. Durch das kleine Gitterfenster fällt nur wenig Licht. Manchmal kommt der Seelsorger für ein gemeinsames Gebet her.
"Um einen Staat zu beurteilen, muss man seine Gefängnisse von innen sehen." Die JVA hat das Tolstoi-Zitat als Überschrift für ihren Internetauftritt gewählt. Und Gefängnischef Michael Völkel bekennt sich zur Transparenz. "Ich würde mir wünschen, dass die Öffentlichkeit mehr wahrnimmt, wie viel gute Arbeit hinter Gefängnismauern geleistet wird. Wie viel wir neben der Sicherheit auch für die Resozialisierung der Häftlinge unternehmen." Im Fokus stehen Gefängnisse aber vor allem, wenn etwas schief läuft, etwa, wenn ein Häftling Suizid begeht. Wie zuletzt der Terrorverdächtige Jaber Albakr in Leipzig oder ein Untersuchungshäftling in Stuttgart-Stammheim. "Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kann man nicht jeden Suizid verhindern", sagt Mähler.
Eine weitere Sorge treibt derzeit viele baden-württembergische Haftanstalten um. Fast alle sind am Rande der Kapazitäten. Viele Gefangene müssen sich Zellen teilen. Die Beamten schieben Überstunden. Die Politik hat mehr Personal versprochen, aber noch nicht geliefert. Eine neue JVA soll gebaut werden.
Bundesweit ist die Zahl der Häftlinge dabei in den vergangenen Jahren in etwa auf einem Niveau geblieben. Mitte 2016 verzeichnete die Statistik 63.100 Gefangene. Davon waren nur 3.700 Frauen.
Auch die Angst vor Islamisten ist in den Gefängnissen angekommen. "In Freiburg ist das eher kein Problem", sagt Mähler im Blick auf rund 100 muslimische Gefangene. Dennoch wurde auch er schon von Häftlingen als Ungläubiger beschimpft. "Aber das sind absolute Einzelfälle. Umgekehrt wenden sich viel mehr Muslime an mich, um ein seelsorgliches Gespräch zu führen."
Jetzt will die JVA probeweise mit muslimischen Seelsorgerinnen zusammenarbeiten. Die beiden Ehrenamtlichen wurden vom Mannheimer Institut für Integration und interreligiösen Dialog ausgebildet. "Wir werden sehen, ob das funktioniert - vor allem auch, ob die muslimischen Männer Frauen als Ansprechpartnerinnen akzeptieren werden", sagt Gefängnischef Völkel. Mählers evangelischer Kollege, Pfarrer Michael Philippi steht dem Pilotprojekt offen gegenüber. "Es ist gut, dass gerade Frauen kommen. Damit senden wir ein Signal, dass in Deutschland Frauen und Männer gleichberechtigt sind."
Pauken hinter Gittern
Bundesweit schicken die beiden großen Kirchen rund 500 Seelsorger hinter Gefängnismauern. Zu großen Teilen werden sie dabei vom Staat bezahlt. Aus einem anderen Bereich hat sich die Kirche im Freiburger Gefängnis gerade zurückgezogen. Während über Jahre Pädagogen von kirchlichen Schulen die Bildungsangebote im Gefängnis organisierten, ist die JVA-Schule jetzt wieder in staatlicher Hand. Dabei ist das Freiburger Bildungsangebot ein bundesweites Vorzeigeprojekt: Vom Deutschkurs über Hauptschulklassen bis zum Abitur und Hilfen beim Fernstudium ist alles möglich.
"Eine wichtige Sache", sagt ein Lehrer. Zur Realität hinter den Mauern gehöre es aber auch, dass zuletzt vor allem junge Afrikaner, die wegen Drogendelikten in Untersuchungshaft landen, jedes Bildungsangebot verweigerten. "An die kommen wir einfach nicht mehr heran."
Diakon Mähler sagt den Lehrerkollegen kurz Hallo; ihm ist wichtig, auch Ansprechpartner der Gefängnismitarbeiter zu sein. Selbst wenn nur wenige direkt das seelsorgliche Gespräch suchen. Einmal pro Jahr organisieren die Gefängnisseelsorger Exerzitien für die Sicherheitsbeamten.
Dann geht Mähler weiter durch die verschiedenen Arbeitsbereiche der Gefangenen. Kurzer Smalltalk mit Gefangenen und Gefängnispersonal in der Schreinerwerkstatt, ein seit 20 Jahren Inhaftierter will den Seelsorger kaum wieder gehen lassen. In der Elektrowerkstatt trifft Mähler den Sprecher der Häftlinge, der wegen eines Tötungsdelikts verurteilt ist. "Ich habe mein ganzes Leben lang rational gehandelt, bis auf diesen einen schlimmen Moment", sagt der drahtige Mann. Im Gefängnis habe er sich anfangs nicht zurechtfinden können. Mähler sei ihm da eine große Hilfe gewesen; er habe ihn auch zum Prozess begleitet. Jetzt ist der Häftling Sprecher der Gefangenen und engagiert sich für die Interessen seiner Mithäftlinge.
Mähler hört still zu. Diese Art von Hilfe, das ist seine Aufgabe. Dabei kennt er seine Grenzen, weiß, dass mancher Häftling vor allem in den Sonntagsgottesdienst kommt, um am Wochenende noch einmal aus der Zelle rauszukommen. Und doch ist er sicher, am richtigen Platz zu arbeiten. "Wie lange ich diesen anstrengenden Dienst noch machen werde, kann ich im Moment nicht absehen."