domradio.de: Der Versöhnungsgottesdienst in Hildesheim steht unter dem Titel "Healing of memories". Was bedeutet das?
Prof. Wolfgang Thönissen (Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn): Es geht darum, zurückzublicken auf die Versöhnungsprozesse der Menschen und der Christen in Südafrika. Vor über 20 Jahren hat es dort einen langen geschichtlichen Prozess gegeben, damit die Christen, Schwarze und Weiße miteinander neu in Gemeinschaft kommen. Das lief unter dem Vorsitz des damaligen anglikanischen Bischofs Desmond Tutu. Er hatte versucht, dass Christen, die einander viel Schlimmes angetan haben, in Zukunft miteinander zusammenleben können. Das ist der Hintergrund. Mit Blick auf die Geschichte in Europa und in Deutschland haben wir hier etwas Ähnliches: Das Gegeneinander von evangelischen und katholischen Christen über die Jahrhunderte nach der Reformationszeit. Wir denken an den großen Krieg im 17. Jahrhundert, den Dreißigjährigen Krieg - aber auch die vielen Gegensätze, Trennungen, Konfessionalismen der vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Und das alles muss aufgearbeitet werden. Die Geschichte muss neu angeeignet werden. Wir gehen hier von dem Grundsatz aus, dass wir zwar die Geschichte nicht verändern können - was geschehen ist, das ist da - aber wir können heute anders damit umgehen. Wir müssen nicht mehr davon ausgehen, dass wir auf ewig voneinander getrennt sind, sondern, dass wir in Zukunft miteinander leben können und dass wir eine gemeinsame Zukunft haben. Das ist mit dem Prozess der Heilung der Erinnerung verbunden.
domradio.de: Es ist ein Buß- und Versöhnungsgottesdienst. Es wir um Schuld und Versöhnung gehen. Wie unterscheidet sich dieser ökumenische Gottesdienst von anderen?
Prof. Thönissen: Zunächst kann man sagen, dass es in der ökumenischen Bewegung und im ökumenischen Miteinander, auch hier in Deutschland, eine Vielzahl von liturgischen Feiern gegeben hat. Auch einen Bußgottesdienst hat es von Anfang an in der ökumenischen Bewegung gegeben. Das Besondere jetzt aber ist, dass darin die Geschichte, die Vergangenheit, die Trennungen der Christen in Europa eine besondere Rolle spielen. Und das hierzu ein Prozess der Annäherung in den Mittelpunkt gestellt werden soll. Das bedeutet, dass im Zentrum des Gottesdienstes ein eigenes Schuldbekenntnis und ein Vergebungsbitte stehen. Dem geht ein Bußpsalm voraus. Dann folgt die Danksagung und am Ende der Danksagung und der Fürbitten kommen die Selbstverpflichtungen. Also, Verpflichtungen der Christen, das Zeugnis für Jesus Christi gemeinsam abzulegen. Das ist etwas wirklich Neues und Innovatives. Und das soll den Prozess des Miteinanders von evangelischen und katholischen Christen in Deutschland voranbringen.
domradio.de: Das erste Mal seit der Trennung wird das Reformationsjubiläum in ökumenischer Gemeinschaft gefeiert. Was sagt das über den Stand der Ökumene aus?
Prof. Thönissen: Das sagt sehr viel aus. Wenn wir an die verschiedenen Jahrhundertjubiläen zurückdenken - 1617, 1717, 1817 oder 1917 - da standen nationale oder protestantische Einigungsfeiern im Vordergrund. Heute ist die Herausforderung Ökumene wirklich angenommen und angekommen. Und das bedeutet, dass Christen in Deutschland, aber auch überall in der Welt, in der Zukunft nicht mehr gegeneinander leben müssen, sondern miteinander. Dass sie die Trennungen wirklich überwinden können. Die Streitfragen des 16. Jahrhunderts sind wirklich überwindbar. Und sie sind ja zum großen Teil überwunden. Wir können in Gemeinschaft miteinander leben, das Evangelium bezeugen und auch vieles, zum Beispiel in Fragen der Gesellschaft und in der Politik, gemeinsam machen. Das ist eine wirkliche Herausforderung und zeigt den überaus großen neuen Stand des ökumenischen Dialoges an.
domradio.de: Wie wird es weitergehen in Sachen Ökumene, wie schätzen Sie das ein?
Prof. Thönissen: Wir sind alle keine Propheten, aber ich denke, dass der Weg des Gemeinsamen vertieft werden kann. Vertiefung heißt natürlich: Wie gehen wir in Familien miteinander um? Wie gehen wir zwischen den Gemeinden miteinander um? Wie gehen wir auf der politischen oder gesellschaftlichen Ebene miteinander um? Wird es auch eine gemeinsame Feier am Tisch des Herrn, also in der Eucharistie geben? Das ist ja für viele konfessionsverbindende Ehen und Familien eine ganz wichtige Frage. Ich denke, dass wir hier neue Impulse gewinnen können. Und dass wir in dieser Frage vielleicht doch noch etwas vorankommen können. Ich weiß, dass es immer noch wichtige und auch noch trennende Fragen gibt. Aber die Impulse dafür sind da. Es gibt überall in der Welt, in Amerika, in Finnland, in Europa Arbeitsgruppen, die sich diese Frage stellen können: Können wir nicht eine gemeinsame Erklärung zu Eucharistie, Amt und Kirche auf den Weg bringen? Der Präsident des päpstlichen Einheitsrates, Kurt Kardinal Koch, hat das schon vor mehreren Jahren gefordert. Und hier arbeiten wir daran. Vielleicht wird da in absehbarer Zeit eine solche Form gemeinsamen Feierns in der Eucharistie und im Abendmahl geben. Die Hoffnungen bestehen.
Das Interview führte Tobias Fricke.