KNA: Herr Schulz, Sie waren als Katholik in einem Ordensinternat. Prägt Sie das noch in Ihrem politischen Handeln?
Martin Schulz (SPD-Kanzlerkandidat): Sehr - mütterlicherseits war meine Familie tief katholisch. Meine Mutter war ein Gründungsmitglied der CDU und stammt aus einer überzeugten katholischen "Zentrumsfamilie". Das Gymnasium der Spiritaner, das ich besucht habe, hat mich mehr geprägt, als ich das in jungen Jahren begriffen habe.
KNA: Inwiefern?
Schulz: Das Erziehungskonzept der Spiritaner, die den Jesuiten nahestehen, schärft das Bewusstsein für Traditionen und ihre Fortschreibung in der jeweiligen Zeit. Das ist sehr modern.
KNA: Sie sind Papst Franziskus mehrfach begegnet. Wie war Ihr Eindruck?
Schulz: Ich hatte zwei Privataudienzen, die mich extrem beeindruckt haben. Was der Papst vermittelt: Wir dürfen nie zulassen, dass Armut die Würde des Menschen untergräbt. Wenn jemand nicht selbstbestimmt und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen kann, weil ihm die wirtschaftlichen Voraussetzungen dazu fehlen, dann ist er ausgegrenzt. Das ist eine Kernbotschaft des Christentums, die natürlich unglaublich politisch ist.
KNA: Ihr Parteikollege, der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzende Raed Saleh, hat sich für eine Art Leitkultur der Toleranz ausgesprochen. Was sind für Sie inhaltliche Kernpunkte der Integration?
Schulz: Die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes, sie sind eine wunderbare Anleitung zum Zusammenleben. Wenn wir schon über "Leitkultur" reden, dann ist das ein sehr guter Rahmen.
KNA: Was bedeutet das im Umgang mit dem Islam?
Schulz: Religion gehört zum Leben. Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, und der Dialog der Religionen und Kulturen ist wesentlich für den Bestand unserer Gesellschaft. Die Ausübung der Religion ist daher durch unser Grundgesetz auch besonders geschützt. Wer aber unter Berufung auf eine Religion Grundrechte missachtet - etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau -, der muss mit Konsequenzen des Rechtsstaates rechnen.
KNA: Wie bewerten Sie die Rolle der Verbände, besonders des deutsch-türkischen Islamverbands Ditib?
Schulz: Allen Religionsgemeinschaften steht unser bewährtes Religionsverfassungsrecht offen. Die Autonomie, die wir darin den Religionsgemeinschaften in ihrer inneren Selbstverwaltung bieten, ist ein hohes Gut und muss geschützt werden. Die Religionsgemeinschaften müssen dafür aber rechtsstaatliche Voraussetzungen erfüllen. Auf dieser Grundlage müssen wir mit Ditib reden.
KNA: Muss hier der Druck erhöht werden?
Schulz: Wir waren lange Zeit glücklich, dass Ditib Imame ausgebildet hat und die türkischen Muslime über Jahrzehnte betreute. Die Beziehungen haben sich geändert, als die Regierung in der Türkei von der kemalistisch-laizistischen Tradition abrückte. Diese Spannungen innerhalb der Türkei beeinflussen auch Ditib. Auch deshalb hoffe ich, dass sich das Verhältnis zur Türkei entspannt.
KNA: Unter Präsident Erdogan gibt es kaum Anzeichen dafür.
Schulz: Das stimmt leider. Viele waren wie ich am Anfang von Erdogan durchaus angetan, weil er die Türkei an Europa heranführen wollte. Das hat sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Sollte Erdogan wirklich die Todesstrafe einführen, dann macht er die Tür zur EU zu.
KNA: Viele hier lebende türkisch- und russlandstämmige Menschen schauen argwöhnisch auf Überlegungen der SPD, den Generationsschnitt einzuführen, bei dem sich Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit nach einer bestimmten Zeit für einen Pass entscheiden müssen. Was erhoffen Sie sich davon?
Schulz: Wir wollen prüfen, ob der Vorschlag des Sachverständigenrats Integration praktikabel ist. Ziel unserer Politik ist es, dass sich alle, die dauerhaft in Deutschland leben, auch in Deutschland heimisch fühlen. Die Realität ist: Viele Bürger mit Türkei-stämmigen Großeltern stoßen bei Deutschen immer noch auf Vorbehalte. Umgekehrt ist bei manchen Deutschtürken die Integration schlechter als bei deren Eltern. Dies müssen wir angehen. Vielleicht kann ein Generationenschnitt da helfen, wir wollen ihn deshalb prüfen.
KNA: Der Bundestag hat im Hau-Ruck-Verfahren die "Ehe für alle" beschlossen. Nicht wenige sehen die Gefahr einer Auflösung von Ehe und Familie hin zu unterschiedlichen Verantwortungsgemeinschaften. Können Sie die Sorge verstehen?
Schulz: Nein. Wir entwerten die Ehe zwischen Mann und Frau nicht. Für die SPD sind Ehe und Familie aber dort, wo Menschen dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen. Die Bundestagsentscheidung mag überraschend gekommen sein. Sie war aber eine langjährige Forderung der SPD und vollzieht nur nach, was in Deutschland längst Alltag ist. Die Umfragen zeigen uns, dass die "Ehe für alle" gesellschaftlich eine enorme Akzeptanz besitzt, das müssen auch Kritiker akzeptieren.
KNA: Mit der "Ehe für alle" verschärft sich die Debatte um künstliche Fortpflanzungsmethoden wie die bisher verbotene Eizellspende und Leihmutterschaft. Wie stehen Sie dazu?
Schulz: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Nicht alles, was machbar ist, ist auch vertretbar.
KNA: Bei der Flüchtlingspolitik mahnen Sie eine größere Solidarität an und drohen andernfalls mit Strafen. Wie wollen Sie das durchsetzen?
Schulz:Im kommenden Jahr beginnen die Verhandlungen um den siebenjährigen Finanzrahmen der EU. Ausgerechnet das Land, das den höchsten Nettobetrag erhält, Polen, weigert sich, Flüchtlinge zu übernehmen. Das ist nicht das Prinzip der Solidarität in Europa. Da werde ich mein Veto einlegen.
KNA: Droht die EU damit nicht auseinanderzubrechen?
Schulz: Nein. Die EU droht an dem eklatanten Mangel an Solidarität auseinanderzubrechen. Nicht daran, dass wir Solidarität einfordern. Das Prinzip der Herren Orban und Kaczynski ist nicht das Europa der Solidarität, sondern das der Rosinenpickerei.
KNA: Wie realistisch ist dann aber noch ein europäisches Einwanderungsrecht?
Schulz: Wenn wir keines bekommen, werden wir niemals das bestehende System der Hoffnungslosigkeit und des Massensterbens durch ein System der fairen Hoffnung ersetzen. Alle großen Zuwanderungsregionen weltweit haben Einwanderungsgesetze. Ohne legale Zugangswege überlassen wir die Menschen den Schleppern und im schlimmsten Fall dem Tod. Das müssen wir unter allen Umständen verhindern.