domradio.de: Sie kennen das Land gut, denn Sie reisen immer wieder nach Venezuela und stehen in engem Kontakt zu den Projektpartnern vor Ort. Seit Monaten gibt es Proteste. Die Inflation steigt ins Unermessliche. Was heißt das für die Menschen auf der Straße? Wie geht es im ganz normalen Alltag zu?
Almute Heider (Misereor-Länderreferentin für Venezuela): Die Bevölkerung leidet vor allem darunter, dass Lebensmittel knapp werden. Die meisten Familien können nur noch zwei oder gar nur eine Mahlzeit am Tag essen. Der Mangel betrifft nicht nur die Lebensmittel, sondern leider auch die Medikamentenversorgung und das gesamte Gesundheitswesen. Selbst die gängigsten Medikamente, wie solche gegen Bluthochdruck, sind knapp.
Es wird immer über die Menschen, die bei den Ausschreitungen auf den Straßen Venezuelas sterben, gesprochen. Aber die vielen Tote, die wegen fehlender Medikamente oder der schlechten Gesundheitsversorgung sterben, über die spricht und die zählt leider keiner.
domradio.de: Kann man da Zahlen nennen?
Heider: Nein. Ich habe bisher noch keine Schätzungen gelesen. Denn vieles lässt sich statistisch nicht erfassen.
domradio.de: Können Sie da ein Beispiel nennen?
Heider: Wenn ein Neugeborenes stirbt, weil es keinen Brutkasten bekommt, oder wenn Leute an einer chronischen Krankheit sterben, nur weil sie ihre regelmäßigen Medikamente nicht bekommen, dann wird das nicht erfasst.
domradio.de: Das stimmt. Was mir dann nicht so ganz in den Kopf gehen will: Eigentlich ist es eine politische Krise im Hinblick auf die verfassungsgebenden Wahlen in der vergangenen Woche. Trotzdem gibt es massive wirtschaftliche Probleme, obwohl Venezuela das erdölreichste Land der Welt ist. Wie passt das zusammen?
Heider: Venezuela ist so reich, dass es seine gesamte Bevölkerung von 31 Millionen Menschen durch eigene landwirtschaftliche Produktion ernähren könnte. Aber der ländliche Sektor wurde nie dementsprechend unterstützt. Im Laufe der Jahre hat Venezuela immer mehr auf die Erdölförderung gesetzt und dadurch die Landwirtschaft und in der Industrie vernachlässigt. Es wurde eben einfach alles importiert. Alles auf eine einzige Karte zu setzen, das kann nicht ewig gut gehen.
domradio.de: Wie kam es dann zu der drastischen Knappheit?
Heider: Als es vor drei Jahren mit dem Erdölpreis bergab ging und die Einnahmen gesunken sind, konnte folglich Venezuela immer weniger importieren. Seitdem wird der Mangel immer stärker. Jetzt stehen die Waren des täglichen Bedarfs nicht mehr ausreichend zur Verfügung. Venezuela bezahlt ja schon größtenteils seine Kredite, die es zum Beispiel von China erhält, mit Erdöl ab. Und nicht mehr mit Geld.
domradio.de: Vergangene Woche wurde eine verfassungsgebende Versammlung gewählt. Es entsteht der Eindruck, Venezuelas Präsident Maduro versucht die demokratischen Instanzen mehr und mehr zu entmachten. Was glauben Sie, wohin bewegt sich Venezuela?
Heider: Es gibt meiner Meinung nach jetzt verschiedene Varianten. Das Parlament kann jetzt zum Beispiel die Versammlung nicht akzeptieren und eigenständig eine Exekutive und eine Judikative bestimmen. Dann würden Parallelstrukturen entstehen, die manche für ein durchaus vorstellbares Szenario halten.
domradio.de: Was halten Sie denn für wahrscheinlich? Wie wird das Ganze ausgehen?
Heider: Im Moment kann man nicht vorhersehen, was morgen in Venezuela passiert. Das ist sehr schwierig. Es gibt drei Szenarien. Einerseits könnte irgendwann Druck aus China kommen, wo das Land mit 52 Milliarden Euro in der Kreide steht. Das wird aber eher als unwahrscheinlich angesehen.
Andererseits könnte Venezuela zahlungsunfähig werden. Noch ist allerdings Erdöl da.
Die wahrscheinlichste Variante ist, dass sich irgendwann Teile des Militärs gegen den Präsidenten stellen. Womöglich eher die unteren Teile des Militärs, die eben nicht mit Lebensmittellieferungen und Geld begünstigt werden.
domradio.de: Heißt das, es könnte einen Bürgerkrieg geben?
Heider: Genau. In die Richtung könnte es dann gehen, weil Bewaffnung auch die Opposition in Bewegung bringen wird – auch wenn sie im Moment keine Waffen haben. Ich halte das durchaus für möglich. Allerdings kann ich nicht sagen, wie wahrscheinlich das ist.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.