domradio.de: Die Situation in Ostafrika spitzt sich immer weiter zu. Allein in Somalia benötigen rund sieben Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Herr Keßler, Sie sind selbst seit gut einer Woche wieder zurück aus Somalia. Wie ist denn die humanitäre Lage in der Region?
Martin Keßler (Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe): Die Lage ist weiterhin sehr gravierend. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Somalia ist von humanitärer Hilfe abhängig. Über ein Viertel der Bevölkerung befindet sich im akuten Stadium der Unterernährung. Bislang konnte die Hungersnot, also das akute Sterben, verhindert werden. Im Jahr 2011 war das wesentlich schlimmer. Nichts desto trotz gibt es massive Mängel.
domradio.de: Ihre Organisation sagt, dass es eine Katastrophe mit Ansage sei. Wie konnte es denn zu diesem Ausmaß kommen?
Keßler: In Somalia treffen verschiedene Faktoren aufeinander. Wir haben einerseits eine schlechte politische Ausgangslage, das heißt im Land herrscht ein sehr starker politischer Konflikt. Neben den verschiedenen Clans in der Bevölkerung und der islamistischen Al-Shabaab-Miliz agiert eine sehr schwache Regierung. Das alles zusammen führt natürlich dazu, dass es kaum Unterstützung seitens der Regierung gibt. Dazu kommt noch eine Dürre, die vorhersehbar war. Also, die Kombination aus der schlechten politischen Ausgangslage und der Dürre ergibt eine tödliche Kombination, die zu Hungertoten führt.
domradio.de: Zu vielen Landesteilen haben auch Hilfsorganisationen keinen Zugang. Wer oder was hindert Sie denn daran, den Menschen in Somalia zu helfen?
Keßler: Es ist eben ein sehr unsicheres Land. Terrororganisationen führen ihren Krieg gegen die Regierung. Sie haben also extrem hohe Sicherheitsanforderungen, wenn sie Hilfsprogramme in Landesteilen durchführen wollen, die eben nicht von der Regierung oder von der Afrikanischen Union gesichert werden. Dann müssen sie an sehr, sehr vielen Checkpoints vorbei. Sie wissen nicht, mit wem sie sich dort einlassen. Es gibt Bombenattentate, Schießereien und Mörsergranaten. Das ist ein sehr, sehr gefährliches Gebiet. Es kann auch sein, dass ihnen die Hilfsleistungen einfach abgenommen werden. Das wissen sie nicht. Immer wieder kommen auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ums Leben. Deshalb ist der Zugang erschwert oder auch zu vielen Gebieten - zum Beispiel Südostsomalia - gar nicht möglich.
domradio.de: Auch in der Millionenstadt Mogadischu ist die Lage schwierig. Dort hat die Diakonie Katastrophenhilfe zum Beispiel ein Berufsbildungszentrum eingerichtet. Wie muss man sich das vorstellen?
Keßler: In den Siedlungen entlang der Ausfallstraßen wohnen viele Jugendliche, die dort die Möglichkeit haben, eine Berufsausbildung zu absolvieren. Zum Beispiel werden in den Klassenräumen die Berufe Elektriker, Maurer und Schreiner gelehrt. Das hat auch den Vorteil, dass in Mogadischu sehr viel gebaut wird. Dort ist es dann relativ einfach, den Jugendlichen einen Job zu vermitteln.
domradio.de: Ihre Organisation ist nicht nur in Somalia aktiv, sondern in rund 40 Ländern mit rund 150 verschiedenen Hilfsprojekten. Sie haben an diesem Donnerstag Ihre Jahresbilanz in Berlin vorgestellt. Gibt es denn auch irgendwo positive Entwicklungen zu vermelden?
Keßler: Natürlich, es gibt auch positive Entwicklungen. Wir arbeiten ja Gott sei Dank nicht nur innerhalb von Gewaltkonflikten, sondern auch in anderen Kontexten. Zum Beispiel kann der Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Nepal noch in diesem Jahr abgeschlossen werden. Das war ein langjähriges Hilfsprogramm. Wir haben auch in den Philippinen in den vergangenen Jahren nach den Wirbelstürmen sehr gut helfen können. Auch auf Haiti wurden Projekte nach dem schweren Hurrikan im November 2016 initiiert, die die Menschen unterstützt haben.
Das Interview führte Heike Sicconi.