domradio.de: Wo genau befinden Sie sich gerade?
Stephan Teplan (Caritas international): Ich stehe im Moment an dem einzigen Punkt, den die Flüchtlinge noch nutzen können, um nach Bangladesch zu kommen. Direkt am Meeresstrand vor einer kleinen Insel genau zwischen Myanmar und Bangladesch. Es ist so, dass derzeit jede Nacht rund 1.800 bis 2.000 Flüchtlinge auf diese Insel kommen und dort die Nacht verbringen und am Tag auf das Festland von Bangladesch übersetzen.
domradio.de: Wie kann man sich die Lage gerade vorstellen?
Teplan: Hier am Kai sah ich noch vor zehn Minuten - und das geht in Intervallen von zwanzig Minuten so weiter - wirklich erschütternde Bilder. Ganze Züge und Ströme von Menschen mit verhärmten Gesichtern. Die Verzweiflung ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie sind ausgezehrt. Ich habe mit einer ganzen Reihe von ihnen gesprochen. Sie haben bis zu zwei Wochen Tagesmärsche hinter sich, teilweise mehrere Tage nichts mehr zu Essen bekommen. Sie sind eigentlich nur noch froh, dass sie endlich in Sicherheit sind nach diesen ganzen Strapazen.
domradio.de: Tausende Rohingya kommen täglich neu an in Bangladesch. Das Gebiet, aus dem die meisten fliehen, ist von der Öffentlichkeit komplett abgeschirmt. Was berichten die Menschen, was dort in Myanmar passiert?
Teplan: Es werden so dramatische Szenen geschildert, dass einem übel davon werden könnte. Sämtliche Rohingya, mit denen ich bisher sprach, berichten mir, dass ihre Dörfer von der Armee angegriffen wurden, ihre Häuser niedergebrannt wurden. Von Plünderungen, Vergewaltigungen und Morden war die Rede. Sie wurden gezwungen, das Land zu verlassen.
Das ist etwas, was bei uns im Westen eigentlich noch nicht so durchgedrungen ist, dass es sich hier offenbar um eine systematische Vertreibung handelt. Mir haben erst heute ein paar Rohingya erzählt, dass ihnen sowohl Mitglieder der Armee als auch Lokalbehörden ausdrücklich gesagt hätten, sie sollten nach Bangladesch gehen. Man wolle sie nicht mehr im Land haben.
Es gibt ja auch gegenteilige Medienberichte, nach denen Myanmar sagt, sie würden sie nicht vertreiben, sondern zurückholen. So, wie die Rohingya mir das berichten, ist das eine blanke Heuchelei und eine doppelbödige Argumentation.
domradio.de: Caritas international ist vor Ort in den Flüchtlingscamps. Wie können Sie so vielen Menschen in dieser Lage helfen?
Teplan: Das ist nur durch ein ganzes Heer von freiwilligen Helferinnen und Helfern möglich. Und da muss ich sagen, habe ich in den Flüchtlingscamps, in denen ich bisher war, eine enorme Solidarität erfahren, die der Caritas hilft, diese Verteilaktionen durchzuführen.
Die letzten vier Tage hat die Caritas Bangladesch - unterstützt von Caritas international - insgesamt 70.000 Menschen mit Nahrung und Kochutensilien versorgt. Das ging von früh morgens bis zum späten Abend. Da stehen ganze Schlangen, tausende von Menschen an, mit einer unglaublichen Disziplin und Ruhe, die ich nur bewundere. Ich kann mir das nur so vorstellen, dass es wirklich die Geduld der Verzweiflung ist, nach all den Strapazen überhaupt etwas zu Essen zu bekommen. Es gibt so viele Helferinnen und Helfer, die sich bereit erklären, die Verteilaktionen mit durchzuführen.
domradio.de: Mehr als 700.000 Rohingya sollen bereits geflohen sein. Wie geht es für diese Menschen jetzt weiter?
Teplan: Das ist noch offen. Die Regierung von Bangladesch hatte noch keine klare Vision und hält sich bedeckt. So, wie Experten mir berichten, werden diese Rohingya vermutlich jahrelang in diesem Lager bleiben.
Es gibt ja einen Parallelfall in Kenia. Bisher war dort das größte Flüchtlingscamp der Welt mit etwas über 400.000 Menschen. Mittlerweile ist das größte Flüchtlingscamp der Welt hier in Bangladesch mit rund 700.000 Menschen. Und es werden täglich noch mehr. Man kann also nur das Überleben der Menschen hier sichern. Hier ist die erste Priorität, dass sie etwas zu essen und eine Unterkunft haben. Und des Weiteren muss man jetzt - da ist auch die Caritas dabei - die sanitäre Versorgung verbessern, damit keine Krankheiten ausbrechen. Gute Trinkwasserversorgung ist wichtig.
Dann kommen weitere Schritte wie Bildung, sodass die Kinder auch wieder in die Schule gehen können. Man muss sich vorstellen, dass mehr als die Hälfte der Flüchtlinge Kinder sind. Die meisten Familien haben zwischen vier und sieben Kinder. Das heißt, geschätzte 60-70 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder.
Das Interview führte Milena Furman.