Der Stadtteil "Olivar del Conde" am Rand von Mexiko-City: Graue Backsteinhäuser reihen sich aneinander, ein ärmliches Viertel: Wer dort wohnt, verdient sich sein Leben mit Gelegenheitsjobs oder auf dem Markt. Es gibt Drogensüchtige, Kinderarbeit, Hehlermärkte und Prostitution. Mitten in diesem Viertel, hinter einem unscheinbaren, verrosteten Eisentor liegt "Yolia": ein Wohnheim, das Mädchen zwischen acht und siebzehn Jahren ein Dach über Kopf bietet, Essen, saubere Kleidung, aber vor allem: Bildung und Zuwendung.
Hier finden Mädchen wie Alejandra ein neues Zuhause: Die 15-Jährige kommt aus El Salvador. Auf der Flucht vor Armut und Gewalt in ihrer Heimat ging ihre Mutter mit ihr nach Mexiko. Dort riss Alejandra dann aus. "Das Letzte, an das ich mich erinnere war, dass sie mir den Absatz ihres Schuhs auf den Kopf schlug", erzählt sie zögerlich. Da war Alejandra acht. Ihr Vater, Alkoholiker, starb als sie zwei war. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und rannte weg. Das Jugendamt griff sie schließlich auf und schickte sie zum Wohnheim "Yolia".
Ein neues Zuhause
21 Mädchen finden dort Platz: Viele von ihnen haben ähnliche Geschichten. Sie sind Waisen oder Missbrauchsopfer, Familienmitglieder haben ihnen zu Hause Gewalt angetan oder sie vernachlässigt. Manche haben Drogen genommen oder sich prostituiert. Unter ihnen sind auch Töchter von alleinerziehenden Müttern, die tagsüber Geld verdienen müssen und nicht wissen, wohin mit den Mädchen. Ihnen bietet die Einrichtung ein neues Zuhause.
Dabei geht es um vielmehr, als Unterkunft und ein warmes Essen: "Unser Ziel ist es, dass die Mädchen ihren Wert als Frau erkennen", erklärt die Sozialarbeiterin und ehemalige Salesianerin Indira Berroterán. "Wenn sie Yolia verlassen, sind sie dafür ausgerüstet, ein Leben in Würde zu führen. Weil sie dann wissen, dass niemand das Recht hat, sie zu benutzen, zu unterdrücken oder ihnen Gewalt anzutun. Sie kennen dann ihre Rechte und wissen, wie sie sie verteidigen. Und das ermöglicht ihnen ein Leben in Würde."
Selbstvertrauen lernen
Vormittags besuchen die Mädchen unterschiedliche Schulen, nachmittags stehen Hausaufgabenbetreuung, aber auch Aktivitäten wie Fußball, Tanzen, Katechese oder Therapiestunden auf dem Programm. Alles mit dem Ziel, die Mädchen zu stärken. Indira deutet auf ein Mädchen, das im Hof gerade behände ein Seil hochklettert und waghalsige Kunststücke vorführt: Das sei Teil des Zirkus-Projektes, erklärt sie. "Aber sie lernen das nicht, damit sie irgendwann an der Ampel für ein paar Pesos auftreten können, sondern damit sie neue Erfahrungen machen, Erfolgserlebnisse haben, Selbstvertrauen bekommen. Sie lernen so, dass sie etwas schaffen können, was sie sich selbst nie zugetraut hätten."
1995 wurde das Projekt gegründet, dessen Name "Yolia" in der Sprache der mexikanischen Ureinwohner, dem Nahuatl, "Herz der Frau" bedeutet. Aber von Jahr zu Jahr müssen die Organisatoren um die Finanzierung bangen, Projektanträge schreiben, Unterstützung suchen, denn Geld vom Staat bekommtdas Wohnheim nicht. Das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt das Projekt schon seit vielen Jahren, auch, um den Mädchen ein Leben in Würde ermöglichen. "Faire Arbeit. Würde. Helfen." lautet das Motto der diesjährigen Weihnachtsaktion: Die Kollekte in den katholischen Gottesdiensten am 25. und 26. Dezember ist traditionell für Adveniat bestimmt, das damit solche Projekte fördert.
Bildung als Schlüssel zur Veränderung
Denn Bildung und Zuwendung sind die besten Rezepte gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen, davon ist auch Indira Berroterán überzeugt: Wer gut ausgebildet ist, muss nicht jeden Job zu jeder Bedingung annehmen.
Mehr als 400 Mädchen haben bei "Yolia" schon die Chance auf neues Leben bekommen. Nicht immer führt das zu einem Schulabschluss und einem gut bezahlten Job. Es gehe um grundsätzliche Veränderung, sagt die Sozialarbeiterin: "Wenn du auf der Straße lebst, musst du hart sein und dich verteidigen können. Viele Mädchen, die hierhin kommen, können Konflikte nur mit Gewalt lösen. Sie wissen nicht, was Zuneigung bedeutet und dass es Menschen gibt, die sie liebevoll behandeln, ohne Hintergedanken." Wenn die Mädchen mit einem anderen Bewusstsein aufwüchsen, würden sie später ihre eigenen Kinder auch anders erziehen. So könne man in kleinen Schritten auch eine ganze Gesellschaft verändern. Davon ist Indira Berroterán überzeugt.
Die 15-jährige Alejandra hat hat bei "Yolia" das Zuhause gefunden, was sie nie hatte. Ihr hilft es, mit Mädchen zusammen zu sein, die Ähnliches durchgemacht haben und sie verstehen. Sie hat bereits ganz genaue Vorstellungen von ihrer Zukunft: Tierärztin möchte sie werden. Und in der Einrichtung als Ehrenamtlerin arbeiten, um Kindern das zurückzugeben, was sie selbst dort bekommen hat. Ob sie ihre Familie trotzdem manchmal vermisst? Sie zögert, zuckt mit den Schultern: "Natürlich denke ich manchmal an meine Mutter. Vor allem, wenn ich andere Kinder mit ihren Eltern sehe. Aber dann denke ich: Ohne Yolia wäre ich da nie rausgekommen!"