Der Fall "Cruz" hat Papst Franziskus die vielleicht schwerste Krise seines bisherigen Pontifikats beschert. Die Diskussionen über den Umgang mit diesem und anderen mutmaßlichen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche Chiles brach wie ein Sturm los, als Franziskus das südamerikanische Land im Januar besuchte.
Ein achtseitiger Brief aus dem Jahr 2015, im dem das Missbrauchsopfer Juan Carlo Cruz dem Papst schilderte, was er in Chile durchgemacht hatte, bringt Franziskus in Erklärungsnot. Warum hat der Heilige Vater drei Jahre lang nichts gegen den chilenischen Bischof Juan Barros unternommen, der den 2011 wegen Misshandlung zu lebenslanger Buße verbannten Pater Fernando Karadima jahrelang gedeckt haben soll?
Papst verteidigte Beschuldigten
Der Fall ist für den Papst so kritisch, dass ein ursprünglich als Skype-Gespräch geplantes Zusammentreffen des Missbrauchsopfers Cruz mit dem Papstgesandten, Erzbischof Charles J. Scicluna, nun zu einer leibhaftigen Begegnung wird.
Cruz, der heute als Priester im US-Bundesstaat Philadelphia lebt und arbeitet, war als junger Mann Opfer der sexuellen Übergriffe des berüchtigten Priesters Karadima geworden; eines von vielen. Cruz hält Barros vor, in den 80er Jahren Zeuge der sexuellen Attacken gewesen zu sein. Genau diesen Mann aber hat der Papst im Januar 2015 zum Bischof ernannt und danach mehrfach öffentlich verteidigt - zuletzt auf dem Rückflug seines Besuchs in Chile im Januar. Es gebe keine Beweise für ein Fehlverhalten des Kirchenmanns, sagte der Papst barsch. Und Opfer hätten sich auch nicht gemeldet.
Cruz hat diese Aussage buchstäblich umgehauen. Denn schon vor drei Jahren hatte der Priester zur Feder gegriffen. "Heiliger Vater", schrieb Cruz nach der Benennung Barros zum Bischof. "Für mich und sehr viele andere war diese Ernennung ein echter Schock." Er schreibe diesen Brief, "weil ich es satt habe, zu kämpfen, zu weinen und zu leiden".
Der achtseitige Brief wurde dem Papst am 12. April 2015 persönlich von Kardinal Sean O'Malley übergeben, dem Erzbischof von Boston und Leiter der päpstlichen Kinderschutz-Kommission. Ein ehemaliges Mitglied dieser Kommission, Marie Collins, stellte der BBC ein Foto zur Verfügung, das zeigt, wie sie das Schreiben zuvor im April 2015 im Auftrag von Cruz persönlich an O'Malley übergeben hatte.
Papstkritik aus den Top-Reihen des Vatikan
Ob Franziskus das Schreiben tatsächlich gelesen hat, ist unklar, da ihn täglich tausende Briefe erreichen. Dennoch hatte Kardinal O'Malley Franziskus im vergangenen Monat öffentlich für seine Bemerkungen in Chile kritisiert. Der Pontifex habe den Opfern das Gefühl gegeben, alleingelassen zu werden, so der Kardinal. Eine seltene Papstkritik aus den Top-Reihen des Vatikan.
Franziskus hatte stets behauptet, der Fall Barros sei eingehend geprüft worden, aber es gebe keine Beweise, die für eine Verurteilung reichten. Cruz zeigte sich empört: "Als ob ich ein Selfie oder ein Foto hätte machen können, während Karadima mich und andere missbraucht und Juan Barros daneben gestanden und zugesehen hat", empörte sich der Priester auf Twitter.
Der aus Malta stammende Erzbischof Scicluna, der schon unter Benedikt XVI. zum obersten Missbrauchsaufklärer des Vatikan bestimmt worden war, will nun mit Cruz im Auftrag des Papstes unter vier Augen sprechen. Franziskus versprach, der Fall Barros werde noch einmal neu ermittelt.
Kirche in Chile in Aufruhr
Für die Kirche in Chile ist der Vorgang schon jetzt ein Problem. Der Umgang mit sexuellen Übergriffen von Priestern bringt viele Katholiken des Landes auf Distanz zur Kirche. Niemand könne ihm das Kostbarste nehmen, das ein Mensch habe - seine Beziehung zu Gott, schrieb Cruz an Franziskus. Doch der Missbrauch und die fehlende Unterstützung der Kirche haben Spuren hinterlassen: "Ich schätze meinen Glauben, er trägt mich, aber er entgleitet mir."
An diesem Wochenende findet Cruz nun endlich persönlich das Gehör, das er sich schon vor drei Jahren erhofft hatte, als er den Brief an Franziskus schrieb.