DOMRADIO.DE: Soziologen beobachten schon lange: Freundschaften werden in dem Maße wichtiger, in dem familiäre Bindungen schwächer werden. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Dr. Wolfgang Krüger (Psychologe, Psychotherapeut und Paarberater): Ja, das stimmt. Ich glaube zwar, dass Familienbeziehungen wichtig sind. Aber sie sind eben schwierig. Die Eltern haben oft hohe Erwartungen, es gibt Spannungen zwischen Geschwistern, schon von Kindheit an Eifersuchtsgefühle. Dann gibt es Erbschaften und das Thema Pflege. Fast in jeder Familie treten doch sehr starke emotionale Verstrickungen auf. Wir aber suchen heute Beziehungen, die wir zum einen selber gestalten können, die also hohe Freiheitsräume haben, die zum anderen aber verlässlich sind. Genau solche Beziehungen sind Freundschaften.
DOMRADIO.DE: Inwiefern kann denn eine gute Freundschaft vielleicht sogar eine Therapie ersetzen?
Krüger: Ich merke oft, dass Patienten zu wenig Freunde haben; wir haben es wirklich mit einem großen Freundschaftsdefizit zu tun. Dabei bräuchten wir dringend Freundschaften, in denen wir offen über uns reden könnten. Wir bräuchten Herzensfreundschaften, in denen wir auch reden könnten über peinliche Situationen, über Ängste, über die Partnerschaft, über die Sexualität. Wir wissen zum Beispiel, dass 70 Prozent der Frauen über ihre Partnerschaft sprechen, aber nur 50 Prozent reden über Sexualität. Wenn wir solche Freundschaften hätten, in denen wir uns sehr offen dem anderen anvertrauen könnten, würde das tatsächlich manche Therapie ersetzen.
DOMRADIO.DE: Viele von uns, meinen Sie, unterschätzen den Wert der Freundschaft. Dabei hat gelebte Freundschaft sogar ganz handfesten gesundheitlichen Mehrwert, oder?
Krüger: Es gibt eine Studie: Wer gute Freundschaften hat, lebt 20 Prozent länger. Wir wissen, dass gute Freundschaften die eigentliche Basis des Lebensglücks sind. Außerdem hat sich herausgestellt, dass wer gute Freundschaften pflegt eine erheblich bessere Partnerschaft hat. Der Wert von Freundschaften ist also ungeheuer groß.
DOMRADIO.DE: Tatsächlich sind die meisten voll in Anspruch genommen, Arbeit und Partnerschaft unter einen Hut zu bringen. Was bedeutet das für unsere Freundschaften?
Krüger: Eine Lebensphase ist da besonders schwierig – und zwar die zwischen 30 und 45. Weil ich da eine Familie gründe, weil ich da Karriere mache und weil ich mich da um die Kinder kümmere. In dieser Zeit fallen Freundschaften oftmals hinten unter. Auch bei den Frauenfreundschaften ist es dann schwierig, aber das Allerschwierigste sind die Männerfreundschaften. Wir wissen, dass Zweidrittel aller Frauen eine enge Freundschaft haben, aber nur ein Drittel der Männer. Wir Männer müssten wirklich aufholen, was intensive, enge Freundschaften angeht.
DOMRADIO.DE: Was raten Sie denn Menschen, die zu Ihnen kommen und sagen "Mir bleibt keine Zeit für meine Freunde"?
Krüger: Das finde ich schwierig. Ich habe immer eine Grundregel und sage, wir sollten immer einen Abend in der Woche für Freundschaften freihalten, zwei Stunden mindestens. Wir gehen ja regelmäßig ins Fitnessstudio, wir sehen fern, wir machen alles Mögliche. Wir brauchen Freundschaften, wenn wir im Leben in Krisen geraten, wenn wir mal Partnerschaftsprobleme haben. Wir brauchen Freundschaften quasi als den Ort einer großen Verlässlichkeit im Leben. Wenn ich zum Beispiel Geburtstag habe, singen wir am Anfang immer das Lied "Wahre Freundschaft soll nicht wanken". Das ist die eigentliche Aufgabe von Freundschaften.
Das Gespräch führte Verena Tröster