DOMRADIO.DE: Für alle, die die Geschichte nicht kennen: Können Sie sie kurz für uns zusammenfassen?
Professor Ilse Müllner: Das Buch Rut im Alten Testament hat gerade einmal vier Kapitel und ist damit sehr kurz für eine biblische Erzählung. Es ist eine Geschichte über Migration und über Freundschaft, die mit einer paradoxen Situation beginnt, nämlich einer Hungersnot in Bethlehem. Dazu muss man wissen, das Bethlehem auf Hebräisch so viel bedeutet wie 'Haus des Brotes'. Es gibt also eine Hungersnot dort, wo es eigentlich Brot geben soll.
Noomi zieht mit ihrer Familie weg in ein fremdes Land nach Moab und da wissen die ursprünglichen Hörerinnen und Hörer dieser Erzählung sofort: Oh, das ist Feindesland! Aber Noomi wird dort mit ihrer Familie gut aufgenommen, ihre Söhne heiraten und zwar Rut, die ja dann zur Hauptperson wird, und Orpa. Aber auch dort läuft vieles schief, die beiden jungen Männer und auch Noomis Mann sterben und so bleiben die drei Frauen allein und mittellos zurück.
Sie sind unversorgt und stehen vor der Frage, was sie nun tun sollen. Noomi will wieder zurück in ihre Heimat nach Bethlehem und die beiden Schwiegertöchter entscheiden sich sehr unterschiedlich. Während Orpa zurückbleibt, geht Rut mit - zunächst gegen den Widerstand Noomis. Zurück in Bethlehem hat Noomi also eine fremde Frau mitgebracht und wieder stellt sich die Frage: Wie werden die beiden versorgt, wovon sollen sie leben? Sie suchen also nach einer Lösung fürs Überleben. Da gibt es nun eine Gestalt, mit der Noomi verwandt ist, ein Mann namens Boas. Dieser Boas hat Äcker, hat Leute, die für ihn arbeiten und Rut geht da aufs Feld um mitzuarbeiten und wird letztlich auch diesen Boas heiraten. Die Geschichte findet also ein glückliches Ende.
DOMRADIO.DE: Das Ganze ist eine Fluchtgeschichte - und eine Geschichte der Freundschaft zwischen zwei höchst unterschiedlichen Frauen. Wie wird diese Freundschaft hier geschildert?
Müllner: Diese Freundschaft ist tatsächlich sehr auffällig, weil es immer wieder um die Beziehung zwischen den beiden geht. Ich finde besonders eindrücklich, wie die Ältere von beiden, also Noomi gezeigt wird. Sie ist die Bedürftigere. Denn sie muss sich als ältere Frau im alten Orient ohne Mann und ohne weitere Nachkommen fragen, wovon sie eigentlich leben soll. Sie verhält sich zunächst ganz zurückhaltend Rut gegenüber und sagt ihr: "Du kannst doch nicht mit mir mitkommen, ich habe dir nichts zu bieten."
Die Jüngere aber besteht darauf, sie zu begleiten und sagt: "Nein, wohin du gehst, da will auch ich hingehen!" Sie besteht darauf, diese Freundschaft mit der Schwiegermutter so einzugehen, dass auch sie ihr ganzes Leben mit aufs Spiel setzt, mit ihr mitgeht. Das finde ich sehr beeindruckend. Und wir sollten dazu sagen, dass weder in antiken Geschichten noch in der Bibel Frauenfreundschaften etwas sind, wovon man auf jeder zweiten Seite liest. Auch das macht diese Geschichte für mich zu einer besonderen Geschichte.
DOMRADIO.DE: Vielleicht auch, weil es eine Freundschaft zwischen Ungleichen ist. Was genau macht den Reiz daran aus?
Müllner: Die Frauen sind sehr ungleich, die eine ist älter, die andere jünger. Sie kommen aus verschiedenen Ländern. Und ich finde übrigens auch ganz persönlich, dass Freundschaft immer diese Chance bietet. Ich suche in Freundschaften natürlich auch jemanden, der mir nah ist, sonst würde ich mich gar nicht befreunden. Aber ich wünsche mir auch jemanden, der mir etwas zeigt, das ich so noch nicht kenne.
Ich kann in so einer Freundschaft sozusagen in einem geschützten Rahmen die Welt erkunden. Ich kann dort etwas wahrnehmen, das außerhalb meiner selbst liegt, was anders ist als ich. Was ich daran besonders faszinierend finde und vielleicht beschäftige ich mich deshalb auch mit einem so alten Buch: Ich sehe mich selbst in so einer ganz anderen Welt, in einer Freundschaft mit jemandem, der oder die ganz anders ist als ich, sozusagen noch einmal in einem anderen Spiegel. Ich sehe, wie wenig selbstverständlich es ist, wie ich bin und wie ich lebe und wie meine Welt ist. Oft kommt uns ja die eigene Welt, die eigene Existenz völlig selbstverständlich und natürlich vor. Dabei ist sie das gar nicht, man kann ganz anders leben.
DOMRADIO.DE: Die Erzählung rund um Rut und Noomi spielt vor mehr als 3000 Jahren im Nahen Osten - was hat sie mit uns heute in Europa zu tun?
Müllner: Wir haben große Themen in dieser Geschichte, die uns heute sehr bewegen. So wird das Migrationsthema im Buch Rut sehr deutlich, wobei wir uns klarmachen müssen, dass die halbe Bibel Migrationsliteratur ist, dass Menschen sich dort häufig aus materieller Not, aber auch aus politischen Verfolgungssituationen heraus von einem Ort zum anderen bewegen. Der ganze alte Orient war geprägt von Völkerwanderungen.
Das ist die Bibel auch und das steckt eben auch in der Rut-Geschichte. Das Buch Rut zeigt in meinen Augen außerdem, dass es unterschiedliche Lebensformen gibt. Da bindet sich eine Frau an eine andere Frau und geht mit ihr mit – wir verwenden dieses berühmte "Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich“ ja häufig als Trauspruch.
Das verweist also auch darauf, dass es andere Lebensformen gibt als die heterosexuelle Kleinfamilie. Es geht auch darum, dass es verlässliches Leben, verlässliche Freundschaft gibt, dass also Freundschaften auch Lebenspartnerschaften sein können. Das ist sicher auch ein Thema, das wir heute wahrnehmen müssen.
DOMRADIO.DE: Der hebräische Name Rut bedeutet "Freundin" - ist Rut so was wie die Freundin par excellence im Alten Testament?
Müllner: Ja, das können wir schon sagen. Allein durch den Namen, das ist ja das gleiche hebräische Wort wie wir es in diesem Gebot haben "Du sollst deinen Nächsten lieben!", das ist ja ein Gebot aus dem Buch Levitikus. Da haben wir das in der männlichen Form. Deswegen ist Rut tatsächlich die Freundin par excellence – mit dieser Lebensform und eben einer anderen Frau, an die sie sich bindet.
Das Gespräch führte Heike Sicconi.