Journalist über den neuen Antisemitismus in Frankreich

"Große Verunsicherung"

Frankreich gedenkt der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll, die am 23. März ermordet wurde. Gab es ein antisemitisches Mordmotiv? Journalist Stefan Lunte schildert die wieder entbrannte Antisemitismusdebatte in der Republik.

Trauermarsch für getötete Holocaust-Überlebende in Paris  / © Thibault Camus (dpa)
Trauermarsch für getötete Holocaust-Überlebende in Paris / © Thibault Camus ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie sicher kann man den eigentlich davon ausgehen, dass der Mord wirklich antisemitisch begründet war?

Stefan Lunte (Journalist und Herausgeber einer französischen Wochenzeitung): Naja, die Anklagebehörden haben den antisemitischen Hintergrund festgehalten und eindeutig ausgesprochen. Das ist ein Unterschied zu früheren Anschlägen, wo eher mit geistigen Schwächen der Täter argumentiert wurde. Zum ersten Mal seit langer Zeit wird hier ein antisemitischer Hintergrund angegeben. Allerdings ist das endgültig noch nicht geklärt, weil beide mutmaßlichen Täter, die in die Wohnung von Mireille Knoll eingebrochen sind, sich gegenseitig beschuldigen. Der eine sagt, es gibt einen antisemitischen Hintergrund. Der andere behauptet, es sei ein schlicht krimineller Beweggrund gewesen.

DOMRADIO.DE: In Frankreich lebt Europas größte jüdische Gemeinde. Der Mord an der 85-jährigen Jüdin ist nicht der erste. Welche Stimmung herrscht unter den 500.000 jüdischen Menschen, die in Frankreich leben?

Lunte: Es gibt eine große Verunsicherung. Jedes Jahr verlassen ein bis drei Prozent der jüdischen Gemeinschaft das Land und ziehen vor allem nach Israel. Städte wie Sarcelles im Norden von Paris, die viele Jahre lang stark jüdisch dominiert waren, sind es heute nicht mehr. Es geht eine große Angst um. Das kann man schon sagen.

DOMRADIO.DE: Gibt es denn wirklich ein Antisemitismus-Problem in Frankreich? Würden Sie das so formulieren?

Lunte: Ja, es handelt sich vor allem um den neuen Antisemitismus. Es gibt diesen traditionellen Antisemitismus, der vor allem mit dem Rechtspopulisten Jean-Marie Le Pen und einem Teil seiner Anhängerschaft in Verbindung gebracht wird. Das ist ein 'klassischer' Antisemitismus. Demgegenüber hat sich in den letzten 25 Jahren ein neuer Antisemitismus herausgebildet, der vor allem mit dem Nahost-Konflikt in Verbindung gebracht werden muss. Und sehr oft auch in der extremen Linken verankert ist.

DOMRADIO.DE: Jetzt hat der französische Präsident Emmanuel Macron sich auch dazu geäußert. Glauben Sie, dass politisch auch gegen den neuen Antisemitismus vorgegangen wird?

Lunte: Das ist nicht so einfach zu beurteilen. Es gibt schon ein Aufwachen und eine echte Diskussion, auch innerhalb der französischen Linken, wo versucht wird, genau diese Frage anzugehen. Der politische Wille gegen den Antisemitismus vorzugehen, ist sicher da. Der erste wichtige Schritt ist ihn anzuerkennen, ihn wahrzunehmen und als solchen auch zu beschreiben.

Das Interview führte Martin Mölder.


Präsident Macron nimmt an der Beerdigung von Mireille Knoll teil / © Christophe Ena (dpa)
Präsident Macron nimmt an der Beerdigung von Mireille Knoll teil / © Christophe Ena ( dpa )
Quelle:
DR