DOMRADIO.DE: Zum 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel gab es große palästinensische Demonstrationen am Gazastreifen. Ein weiterer Grund war die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem. Warum blieb es gestern ruhig?
Dr. Bettina Marx (Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah): Offenbar hat es Kontakte gegeben zwischen der Führung der Palästinenser am Gazastreifen, der Hamas, der Autonomiebehörde Israel, Katar und Ägypten. Das melden zumindest israelische Quellen. Und bei diesen Kontakten hat man miteinander verabredet, zu versuchen, die Krise zu entschärfen.
Die Ägypter haben die Grenze aufgemacht und Verletzte aufgenommen, weil das Gesundheitssystem im Gazastreifen tatsächlich zusammenbricht. Die Israelis haben Waren über den Checkpoint gelassen, den sie eigentlich geschlossen hatten, weil er von palästinensischen Aktivisten angezündet worden war. Und so haben sich alle bemüht. Auch die Hamas hat kleine Busse eingesetzt, um Leute an die Grenze zu bringen.
Es sind nur einige hunderte, vielleicht maximal eintausend Menschen an die Grenze gekommen. Es gab einen Toten, das habe ich gehört. Aber ansonsten ist es gestern im Vergleich zu vorgestern ruhig geblieben.
DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns versuchen, den Gazastreifen grundsätzlich zu verstehen: Im Jahr 2006 gab es die letzten Wahlen. Seitdem ist die radikal-islamische Hamas an der Regierung und im Prinzip seitdem ist auch der Gazastreifen abgeschottet von der Außenwelt. Die Menschen können nicht rein, die Menschen können nicht raus. Sie stehen in Kontakt mit den Menschen vor Ort. Wie sieht der Alltag für sie aus?
Marx: Das Leben der Palästinenser hat sich in eine Hölle verwandelt. Man muss sich die Ausmaße des Gazastreifens vor Augen führen. Er ist ungefähr 40 Kilometer lang, an der breitesten Stelle 12 Kilometer breit, aber an den schmaleren Stellen nur zwei, drei Kilometer breit. Also ein winziges Stückchen Land. Zwei Millionen Menschen leben dort. Es gibt eine extrem hohe Geburtenrate. Es werden wahrscheinlich in absehbarer Zeit drei Millionen Menschen dort leben.
Und diese Menschen haben überhaupt keine Möglichkeiten, sich zu ernähren. Sie leben fast alle von Lebensmittelhilfen der Vereinten Nationen oder anderen Zuwendungen. Es gibt keine Arbeit im Gazastreifen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 40 Prozent, bei Jugendichen sogar bei 80 Prozent. Das bedeutet, dass hier eine Generation heranwächst, die zum Teil sehr gut gebildet ist – es gibt gute Schulen und Universitäten im Gazastreifen – die aber dann, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hat, mit leeren Händen dasteht und die keinerlei Aussichten hat, einen Beruf zu ergreifen, Brot zu erwerben, eine Familie zu gründen, Kinder groß zu ziehen.
All' das, was für die junge Leute bei uns im Westen selbstverständlich ist, fällt für die jungen Leute im Gazastreifen vollkommen aus. Darüber hinaus sind sie von der Welt abgeschnitten. Sie können nicht raus. Sie können auch keine Besuche empfangen, weil auch niemand reinkommt in den Gazastreifen – außer ganz wenige Diplomaten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Jounalisten.
Das ist jetzt schon seit elf Jahren so. Und auch vorher war der Gazastreifen nicht sehr zugänglich. Das führt natürlich dazu, dass die Menschen in einer sehr kleinen, sehr beschränkten Welt leben. Und dass sie die Nase voll davon haben. Sie wollen raus, sie möchten gerne ein anderes Leben führen.
DOMRADIO.DE: Die Europäische Union und die USA haben im Jahr 2015 und auch 2016 mehr als eine Milliarde Dollar investiert. Was passiert mit diesem Geld?
Marx: Damit passiert überhaupt nichts. Das ganze Geld geht nur in humanitäre Hilfe. Es passiert überhaupt nichts, was in irgendeiner Form nachhaltig ist. Der Gazastreifen wurde 2014 im letzten Kreig weitgehend zerstört. Ganz viel ist noch nicht wieder aufgebaut. Es gibt auch heute noch Menschen, die in irgendwelchen Notunterkünften leben – vier Jahre später!
Es gibt keinerlei Wirtschaft im Gazastreifen. Dieses kleine Gebiet, was ja nicht mit der Außenwelt Handel treiben kann, kann natürlich überhaupt keine Wirtschaft aufbauen. Das ist alles nicht nachhaltig. Wenn man Geld reinpumpt, versickert es sofort wieder, weil nichts aufgebaut werden kann, was irgendeine Beständigkeit hat.
DOMRADIO.DE: Es ist schwierig, Israel und Palästina an einen Tisch zu bringen. Seit vorgestern ist der Kontakt mit den USA noch komplizierter geworden, weil sie sich mit ihrer Botschaft in Jerusalem klar auf eine Seite geschlagen haben und damit als Vermittler ausscheiden. Sehen Sie irgendeinen Ausweg?
Marx: Es ist wirklich sehr, sehr schwierig. Ich kann nur hoffen, dass sich nachdem die USA ausfallen andere Länder besinnen – vielleicht die Europäische Union. Das ist natürlich nicht einfach, das ist klar, weil ja auch die Europäische Union gespalten und uneinig ist. Aber im Grunde müsste eine solche äußere Macht eingreifen und die beiden Partner wieder an den Verhandlungstisch zwingen.
Wenn man noch länger wartet, dann weiß man gar nicht mehr, worüber man verhandeln soll. Eine Zwei-Staaten-Lösung, die international auf dem Tisch liegt, verschwindet immer mehr. Die Israelis besiedeln immer mehr Land, sie stehlen den Palästinensern ihre Ressourcen. Wo soll eigentlich noch dieser zweite Tisch entstehen? Es ist wirklich höchste Zeit, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Sonst wird es nicht gut ausgehen.
Das Gespräch führte Renardo Schlegelmilch.