KNA: Seit Frühjahr 2016 diskutieren die Mitgliedstaaten über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Während Griechenland und Italien eine Lastenteilung fordern, lehnen die osteuropäischen Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn dies ab. Ist ein Kompromiss bei der Umverteilung von Flüchtlingen nach Ihrer Meinung noch möglich?
Daniel Bartha (Leiter des Budapester Zentrums für Euro-Atlantische Integration und Demokratie/CEID): Ich glaube nicht. Denn in Ungarn zum Beispiel würde ein Kompromiss der internen Politik und Rhetorik der Regierung widersprechen. Ähnlich sieht es auch in Tschechien aus. Zudem ist für mich klar, dass eine Flüchtlingsumverteilung nach einer Quote nicht funktioniert. Die Migranten wollen nicht nach Ungarn. Die finanziellen Hilfen für Asylbewerber oder die Bezahlung von Arbeit ist viel geringer als in anderen EU-Ländern und damit unattraktiv.
Noch nicht einmal Arbeiter aus anderen Ländern wollen nach Ungarn. Aus welchem Grund sollten Migranten kommen wollen?
KNA: Warum gibt es eine so große Angst unter der ungarischen Bevölkerung vor Migranten?
Bartha: Das ist ein sehr komplexes Thema mit vielen möglichen Antworten, die die gesamte Gesellschaft in Ungarn betreffen. Der Hauptgrund ist, dass die Regierung bei ihren Wählern Angst erzeugt hat. In den vergangenen fünf bis sechs Jahren investierte sie etwa eine Milliarde Euro nur in Kampagnen, um Angst vor Migranten zu schüren. Internationale Akteure wie die Vereinten Nationen und Brüssel stellt sie dabei immer wieder als Gegner dar. Sie sagt zum Beispiel, dass die Vereinten Nationen die illegale Migration nach Ungarn gefördert haben.
KNA: Was sind weitere Gründe?
Bartha: Dazu kommt die Angst vor einem sozialen Abstieg. Auch wenn das durchschnittliche Einkommen in den vergangenen Jahren gestiegen ist, so leben Menschen in Ungarn etwa von 600 bis 700 Euro im Monat. Auf dem Land sind es oft nur 500 Euro. Wenn sie nun hören, dass Migranten im Monat 1.000 Euro in Deutschland erhalten und das auch der Fall in Ungarn sein könnte, empört sie das.
KNA: Gibt es außer den Kampagnen der Regierung noch andere Informationsquellen für die Menschen in Ungarn?
Bartha: In vielen Teilen des Landes sind die Medien von der Regierung kontrolliert. Sie haben oft keinen Zugang zu anderen Angeboten. Es gibt quasi nur eine Wahrheit, und die kommt von der Regierung. Dazu gehört auch die Botschaft, wonach Migranten Kriminelle sind.
KNA: Was ist mit der Zivilgesellschaft? Versucht sie, Alternativen zu bieten?
Bartha: Die Zivilgesellschaft in Ungarn und anderen zentraleuropäischen Ländern war schon immer schwach entwickelt. Die Nichtregierungsorganisationen in Ungarn sind nicht gut ausgestattet. Sie haben keine finanziellen Mittel und sind oft sehr zentralistisch organisiert. Das bedeutet auch, dass der Rückhalt in der Bevölkerung landesweit eher schwach ist.
KNA: Könnte die katholische Kirche als Mittler auftreten?
Bartha: Es ist eine Schande, was die katholische Kirche in Ungarn macht. Nur ein oder zwei einflussreiche Geistliche sind für mehr Menschlichkeit aufgestanden. Der Rest hüllte sich in Schweigen. Oder noch schlimmer, sprach auch schlecht über Migranten. Kaum ein Vertreter der katholischen Amtskirche hat den Mut, falsche Aussagen der Regierung zu korrigieren. Den Papst mit seiner offenen Position gegenüber Migranten beschrieben einige Geistliche gar als "irre". Der Grund ist meiner Meinung nach einfach: Die Kirchen sowie andere religiöse Gemeinschaften werden mit Millionen vom Staat unterstützt. Deshalb schweigen sie.
KNA: Welche Situation haben Christen in Ungarn?
Bartha: Die Regierung sagt immer, dass sie Christen schützen. Trotzdem öffneten nur sehr wenige Priester ihre Kirchen für die Migranten, als sie während der Krise 2015 durch Ungarn kamen, obwohl viele zu christlichen Minderheiten gehörten. Wie passt das zusammen? Schutz für Christen, aber keine Bereitschaft, ihnen in der Kirche für einige Tage eine Unterkunft zu bieten? Ich denke, die Rolle der Kirche in Ungarn während der Migrationskrise 2015 muss noch einmal kritisch bewertet werden.
Das Interview führte Franziska Broich.