Das Urteil ist deutlich und wenig überraschend: Die Bundesländer müssen eine gesetzliche Grundlage für Zwangsbehandlungen in psychiatrische Einrichtungen schaffen. Patienten dürfen nicht ohne weiteres über einen längeren Zeitraum an ein Bett gefesselt, also fixiert, werden.
Die entsprechenden Landesgesetze aus Bayern und Baden-Württemberg entsprechen nach der Entscheidung des Zweiten Senats nicht den grundgesetzlichen Vorgaben und müssen deshalb bis Ende Juni 2019 neu gefasst werden.
Eins-zu-eins-Betreuung
Nach Schätzungen werden etwa fünf Prozent der Patienten während eines Psychiatrieaufenthalts fixiert. Dass das Thema viele betreffen kann und nicht nur für dauerhaft Untergebrachte bedeutsam ist, zeigt die Verfassungsbeschwerde aus dem Freistaat: Dort war der Kläger schlicht betrunken und kam in eine psychiatrische Klinik, wo er acht Stunden lang an beiden Armen und Beinen sowie an Bauch, Brust und Kopf gefesselt wurde - zwölf Stunden nach der Einlieferung war er wieder frei. Seine Schadenersatzforderungen gegen das Land blieben ohne zählbares Ergebnis. Jetzt gab ihm das Bundesverfassungsgericht Recht.
Der Fall wurde deshalb ans Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Der Erste Senat betont in seiner Entscheidung, die Fünf-Punkt- oder Sieben-Punkt-Fixierung eines Menschen bedeute einen Eingriff in dessen Freiheit, wenn die Maßnahme mehr als eine halbe Stunde überschreite. Künftig ist bei Fixierungen eine Eins-zu-eins-Betreuung durch pflegerisches oder therapeutisches Personal verpflichtend.
Richterlicher Bereitschaftsdienst
Zudem muss zwischen 6.00 Uhr und 21.00 Uhr ein richterlicher Bereitschaftsdienst zur Verfügung stehen, um die ärztliche Anordnung der Fesselung juristisch zu klären. Dieser Punkt war in der mündlichen Verhandlung im Januar zentral. Immer wieder ging es damals um den Richtervorbehalt, also darum, ob die Zwangsmaßnahme nicht nur medizinisch angeordnet, sondern auch von einem Juristen abgesegnet werden muss - idealerweise und in der Regel vorher, zumindest aber nachträglich.
Übereinstimmend hatten auch mehrere Ärztevertreter dafür votiert. Betroffene müssen zudem darüber informiert werden, dass sie eine Fixierung später rechtlich überprüfen lassen können.
Dies alles sind Konsequenzen der Verhandlung. Bei der Expertenbefragung hatten sich die Richter wiederholt und sehr genau nach den Verfahrensabläufen erkundigt, wenn Menschen etwa von der Polizei in psychiatrische Einrichtungen eingeliefert werden.
Unterschiedliche Regelungen
Die Regelungen in den 16 Bundesländern sind derzeit unterschiedlich. Nur Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben bislang die Einschaltung eines Richters gesetzlich vorgeschrieben. Bayern und Baden-Württemberg müssen nun unmittelbar nachbessern, doch auch in den anderen Bundesländern ist davon auszugehen, dass die Parlamente ihre Gesetze genau unter die Lupe nehmen werden und prüfen, ob sie mit den verschärften Karlsruher Vorgaben übereinstimmen.
Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha (Grüne) nannte die zeitliche Vorgabe des Gerichts für Änderungen "ausgesprochen sportlich". Das Urteil selbst will er nicht als Niederlage, sondern lediglich als "Präzisierung" des Landesgesetzes sehen. Wesentliche Punkte der gesetzlichen Regelung im Südwesten seien bestätigt worden.
Klar ist indes, dass im Psychiatrie-Alltag neben juristischen Kriterien weiche Faktoren eine wichtige und entscheidende Rolle spielen: Sind alle Mitarbeiter geschult, welches Menschenbild ist Grundlage ihres Handelns, hat eine Einrichtung genügend Pfleger und Ärzte?
Studien zeigen, dass die Zahl der Fixierungen sinkt, wenn die der Pfleger steigt. Muss also schlicht mehr Geld ins System? All dies konnte Karlsruhe mit seiner Entscheidung kaum lösen - zumindest hat das Gericht aber die Situation in psychiatrischen Einrichtungen wieder auf die gesellschaftliche Tagesordnung gebracht.