Die Gemeinde Chalatenango im Nordosten El Salvadors: Suyapa Serrano Cruz steht am Ufer des Río Sumpul, gemächlich fließt das braune Wasser des Flusses an ihr vorbei: Nichts erinnere hier mehr an damals, sagt sie und schaut sich um: "Kein Schild, kein Gedenkstein, kein Kreuz. Uns Überlebenden sind nur die Erinnerungen geblieben."
Es war im Mai 1982, als Militärs die Region unter Beschuss nahmen. Im Land herrschte Bürgerkrieg und im Namen der Aufstandsbekämpfung brannten Soldaten ganze Dörfer nieder, verfolgten die Bewohner und töteten hunderte Zivilisten: mehrheitlich einfache Menschen vom Land und arme Bauern, die irgendwie zwischen die Fronten geraten waren.
Wer konnte, versuchte sich schwimmend über den Río Sumpul ins Nachbarland Honduras zu retten, auch Suyapa und ihre Familie. Doch auf der anderen Seite des Ufers zwangen honduranische Soldaten die Flüchtenden zur Rückkehr. Die Menschen saßen in der Falle. Viele ertranken im Fluss, erinnert sich Suyapa. Ihre beiden Schwestern Ernestina und Erlinda, damals sieben und drei Jahre alt, gingen in den Wirren der Flucht verloren. Ob sie ertranken oder von Militärs mitgenommen wurden? Suyapa weiß es nicht. Ihr Blick wird müde. Bis heute sucht die 50-Jährige nach Gewissheit.
Kinderhandel als Geschäft
Das Massaker vom Río Sumpul ging als eines der Massaker in die Geschichte El Salvadors ein, die Militärs während des Bürgerkriegs von 1980 bis 1992 begingen. Der Krieg forderte mehr als 75.000 Todesopfer, Tausende verschwanden. Unter ihnen auch über 3.000 Kinder. Das sei Teil der Kriegsstrategie gewesen, sagt Eduaro García. Er ist Direktor von "Pro-Búsqueda", einer Organisation, die seit vielen Jahren versucht, diese vielen Fälle verschwundener Kinder in El Salvador aufzuklären.
Anfangs seien die Soldaten angewiesen worden, alle zu töten, die im Verdacht standen, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten, erzählt García: auch alte Menschen, Frauen und Kinder. "Aber das Töten von Kindern hat selbst die Soldaten demoralisiert, viele weigerten sich, diese Befehle auszuführen", fährt er fort. Daraufhin habe man angefangen, die Kinder ihren Eltern wegzunehmen und sie an Paare im In- und Ausland zu verkaufen. "So entwickelte sich ein regelrechter Kinderhandel in El Salvador."
Suche nach Wahrheit
In rund 1.000 Fällen bemühte sich Pro-Búsqueda bislang um Aufklärung, einer davon ist der von Magdalena Emperatriz Meléndez: Früher, in ihrem ersten Leben, hieß sie María José Barrera Sánchez. Vier oder sechs Tage war muss sie alt gewesen sein, als man sie ihrer Mutter wegnahm. Das hat sie sich so ausgerechnet. Die Mutter war auf der Flucht vor einer der Militäroperation im Jahr 1982.
Magdalena wuchs in einem Waisenhaus auf: "Niemand kam damals vorbei, um mich zu besuchen", erinnert sie sich. Das sei für sie zunächst normal gewesen, sie nahm das hin. Erst als in der Region die ersten Familien wieder zusammengeführt wurden, begann sie Fragen zu stellen.
Es war der Jesuit Jon Cortina, der zwei Jahre nach dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges in El Salvador die Organisation "Pró Búsqueda" gründete. Heute führen 15 Mitarbeiter – Menschenrechtler, Psychologen, Juristen und Genetiker - die Arbeit in seinem Namen fort. Unterstützung erhalten sie vom katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. In über 400 Fällen konnten Familien bereits wieder zusammengeführt oder zumindest Informationen über das Schicksal der verschwundenen Kinder gefunden werden. Staatliche Hilfe bekommen die Menschenrechtler dafür nicht. Es fehle der Wille zur Aufklärung, sagt García.
Kein Wille zur Aufklärung
1993 beschloss El Salvadors Parlament eine Generalamnestie, die Kriegsverbrecher vor Strafverfolgung schützte. Auch wenn der oberste Gerichtshof diese mittlerweile für verfassungswidrig erklärt hat: Wenig von dem, was in den Friedensverträgen von 1992 vereinbart wurde, wurde umgesetzt: Keine Aufklärung, keine Öffnung der Militärarchive. Täter wurden niemals zur Rechenschaft gezogen.
Eine Aufarbeitung der Vergangenheit sei auch über 25 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs nicht in Sicht, so Eduardo García: "Die Politiker nennen die Opfer immer noch "Aufständische" und "Kommunisten", genau wie damals", sagt er. Sie forderten einen Schlussstrich unter der Geschichte. "Wir hingegen wollen Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparationen und die Garantie, dass so etwas nie wieder passiert."
Reparationen für das, was sie erlitten hat? Magdalena Emperatriz Meléndez kann sich das nicht vorstellen. Aber sie ist der Wahrheit ein Stück näher gekommen: Sie hat ihren Vater kennengelernt und Verwandte ihrer Mutter, auch wenn die nicht über die Vergangenheit sprechen wollen. Ihr Vater, der während des Bürgerkriegs gefoltert wurde, ist heute psychisch krank. Und was mit ihrer Mutter passierte, weiß sie bis heute nicht. "Die Militärs haben sie mitgenommen, ich weiß nicht, ob sie noch lebt", sagt Magdalena.
Was ihr wirklich fehlt, ist ihr erst bewusst geworden, seit sie selbst Kinder hat: "Diese bedingungslose Liebe", sagt sie, sei nicht zurückzuholen. Eine Wunde, die niemals heilen werde. "Manchmal vermisse ich sie so sehr, dass es weh tut". Magdalena muss schlucken, Tränen steigen ihr in die Augen. "Ich nenne das "Mamitis" und auch wenn meine Kinder mich dann versuchen zu trösten, es reicht nicht!" Was sie sich in diesen Momenten am meisten wünscht, ist die Umarmung ihrer Mutter. Sie weiß noch nicht einmal, wie sie ausgesehen hat. Die Familie ihrer Mutter war so arm, dass niemand damals ein Foto von ihr gemacht hat.