DOMRADIO.DE: Weltweit sind Schätzungen zufolge mehr als 18 Millionen Menschen betroffen. Das Bundeskriminalamt gibt für 2017 insgesamt knapp 500 Opfer von Menschenhandel durch sexuelle Ausbeutung in Deutschland an. Menschenhandel ist meist unsichtbar. Findet Menschenhandel denn in Europa statt und wenn ja, wo?
Eva Maria Welskop-Deffaa (Vorstand im Bereich Sozial- und Fachpolitik der Caritas): Ja, Menschenhandel findet in Europa statt. Es findet überall dort statt, wo sich Geld mit Ausbeutung verdienen lässt. Und das ist eigentlich das Tragische. Es handelt sich hier wirklich um verbrecherische, organisierte Kriminalität, die aber unsichtbar bleibt, obwohl sie in so vielfältiger Weise Menschen ausbeutet und missbraucht.
Es geht natürlich zuerst immer wieder um die sexualisierte Gewalt, um Frauen, die zur Zwangsprostitution gezwungen werden, aber eben auch um Arbeitsausbeutung und Menschenhandel zum Zweck der Bettelei und auch Menschenhandel zur Begehung von Straftaten.
Und noch ein Aspekt: Da haben wir zwar noch ganz schlechte Zahlen, aber wir rechnen mit steigender Dynamik, nämlich beim Menschenhandel zur Organentnahme. Das alles kennen wir sehr gut über unser internationales Netzwerk, mit dem die Caritas international zusammenarbeitet und diese Entwicklungen mit sehr großer Sorge beobachtet.
DOMRADIO.DE: Wir sehen das Thema tatsächlich meist im Fernsehen, in Krimis. Eigentlich denkt man ja, unser Rechtssystem in Deutschland müsste genügend Schutz bieten und Menschenhandel unterbinden. Was läuft denn in Deutschland schon ganz gut und was muss da dringend geändert werden?
Welskop-Deffaa: Ich denke, als erstes können wir schon unserem Rechtsstaat danken. Wir nehmen wahr, dass es der Polizei wirklich nicht egal ist, was hier passiert. Aber es ist eben ein sehr schwieriges Feld. Es arbeitet alles vollständig im Dunkeln.
Wenn Sie fragen was gut ist, dann wollen wir natürlich besonders auch auf unsere eigene gute Arbeit hinweisen. Die Arbeit in den Beratungsstellen ist eine exzellente Arbeit, die den Betroffenen hilft. Aber es gibt keine bundeseinheitliche Regelung zur Kostenübernahme. Das führt dann immer wieder dazu, dass die Beratungsstellen zum Teil auch prekär finanziert sind, auf Spenden angewiesen sind, nicht wissen, ob sie morgen die gute Arbeit noch leisten können, die sie heute leisten.
Und gut ist im Prinzip auch die Regelung zur Entschädigung, die wir in Deutschland haben. Aber sie greift nur für die Opfer, die auch ein Aufenthaltstitel haben. Und das ist einer der Punkte, den wir in unserem Zehn-Punkte-Programm kritisieren. Da sollte man großzügiger werden und nicht auf den Aufenthaltstitel schauen, wenn man die Opfer entschädigen möchte.
DOMRADIO.DE: Sie haben die Beratung angesprochen. Wie läuft diese Beratung denn ab? Erreicht man die Menschen überhaupt, die da betroffen sind?
Welskop-Deffaa: Das ist, glaube ich, die Kunst. Gerade was die sexualisierte Gewalt und Ausbeutung angeht, sind es ganz überwiegend Frauen, die es zu erreichen gilt. Wir haben es aber über viele Jahre nicht nur mit unseren Caritas-Beratungsstellen - es gibt auch die von SOLWODI oder Renovabis - geschafft, sich über verschiedene Formen der Kommunikation in der Szene der Betroffenen bekannt zu machen, sodass sich dann Frauen auf den abenteuerlichsten Wegen an die Beratungsstellen wenden.
Da wird dann auch weiter alles dafür getan, dass sie auch geschützt sind und dass nicht die Tatsache, dass sie sich anvertrauen, für Sie zum neuen Risiko der Gewaltanwendung wird. Aber da sind wir wirklich sehr vertrauenswürdig und auch sehr klug unterwegs. Ich würde sagen, die Erreichbarkeit ist sehr gut gewährleistet.
DOMRADIO.DE: Stichwort Aufenthaltsrecht. Gibt es da Punkte in Deutschland, auch im Migrationsprozess, die es Kriminellen sogar noch erleichtern, Menschen auszubeuten?
Welskop-Deffaa: Uns bereitet natürlich die Tatsache Sorge, dass Frauen, die wissen, dass sie zu Unrecht in Deutschland sind besonders große Angst haben, sich der Polizei oder einer Beratungsstelle anzuvertrauen. Die Frauen wurden ja gewaltsam hierher gebracht und denen ist schon klar, dass sie keinen Rechtsanspruch haben. Sie wissen, wenn es auffällt, dass sie ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland sind, dass sie dann sofort in ihr Heimatland oder sonst wohin zurückgeschickt werden. Dort waren sie üblicherweise auch nicht in komfortablen Lebenssituationen.
Sie werden ja deswegen Opfer von Menschenhandel, weil sie schon in ihrer Heimatsituation eine verletzliche Gruppe sind. Oft spielt die Familie da auch eine ganz tragische Rolle.
Deswegen sagen wir, damit sich die Frau überhaupt traut, sich zu öffnen, zur Polizei zu gehen, Anzeige zu erstatten, braucht es mindestens ein befristetes Aufenthaltsrecht von sechs Monaten - unabhängig von allen anderen Ansprüchen auf Aufenthaltsrecht, allein um der Aussage eine faire Möglichkeit zu geben.
DOMRADIO.DE: Dann machen wir es jetzt mal ganz konkret an Personen oder Institutionen fest. Welche Forderungen haben Sie als Caritas auch an die deutsche und europäische Politik?
Welskop-Deffaa: Wir haben jetzt ein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt. Im Grunde genommen um - nachdem 2016 die gesetzlichen Regelungen in Deutschland echt verbessert wurden - nach einem gewissen Abstand zu sagen: "Leute, jetzt guckt mal auf die Umsetzung. Ist das auch alles schon auf dem richtigen Weg?". Und da fällt uns einiges auf, was besser werden sollte.
Wir würden uns sehr, sehr wünschen, dass jetzt endlich die nationale Berichterstatterstelle gegen Menschenhandel eingerichtet wird. Das ist für uns eine der Voraussetzungen dafür, dass wir auch mal endlich Licht in das Dunkel der Zahlen bringen und dass auch die effektive grenzüberschreitende Verfolgung von Straftätern innerhalb der Europäischen Union verbessert wird. Informationenrelevante Daten sind die Grundlage dafür, dass die Maßnahmen zur Strafverfolgung koordiniert werden können.
Wir wünschen uns auch ganz besonders, dass Minderjährige nochmal gesondert in den Blick geraten. Wir haben das Gefühl, da ist die Politik noch nicht überall ausreichend sensibilisiert.
Und wir wünschen uns natürlich kontinuierliche Weiterbildung und Sensibilisierung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Behörden und Beratungsstellen, die jetzt zwar nicht auf Menschenhandel spezialisiert sind, bei denen aber eine hohe Aufmerksamkeit die Voraussetzung dafür ist, dass Opfer und Täter von Menschenhandel frühzeitig identifiziert werden können.
Das sind einige der Punkte. Nachzulesen ist das alles auf Caritas.de. Das sind einige unserer Kernforderungen.
Das Interview führte Jann-Jakob Loos.