Er soll der letzte gefallene Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen sein. Am späten Vormittag des 11. November 1918, vor 100 Jahren, rannte Henry Nicholas John Gunther nahe dem lothringischen Chaumont-devant-Damvillers auf eine deutsche Maschinengewehrstellung zu. Um 10.59 Uhr war der US-Soldat tot - eine Minute, bevor der Waffenstillstand in Kraft trat, der den Ersten Weltkrieg beendete. Gunther war einer der letzten von schätzungsweise zehn Millionen Soldaten, die seit 1914 ihr Leben auf den Schlachtfeldern ließen.
Hinzu kamen rund sechs Millionen Zivilisten, die an den Folgen des Krieges starben. Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard spricht von einer bis dahin ungeahnten "Gewaltsteigerung". Das Erbe des Krieges wiegt schwer. Man kann sein Echo hören, seine Spuren sehen und seine Wirkungen spüren: In Ypern, einer Kleinstadt in Belgien, die es eigentlich nicht mehr hätte geben sollen. An einem leeren Fleck in der polnischen Ortschaft Olsztynek (Hohenstein). In Daressalam in Tansania, wo ein kleines Denkmal an das bizarre Ende der Kolonie Deutsch-Ostafrika erinnert. Auf einem Pass in den italienischen Alpen, wo Soldatenhelme zum Gartenschmuck umfunktioniert wurden.
Einmal täglich steht in Ypern der Verkehr still
In Ypern steht der Verkehr still. Jeden Abend um Punkt acht Uhr. Dann wird unter dem Menen-Tor der Toten des Krieges gedacht. Sechs Feuerwehrmänner blasen auf ihren Trompeten im Auftrag der "Last Post Association" den Zapfenstreich. Zum ersten Mal erklang der "Last Post" am 24. Juli 1927, als die Briten mit dem neu errichteten Menen-Tor die Gedenkstätte für ihre in Flandern gefallenen Soldaten einweihten.
In der Vergangenheit nahmen zahlreiche Prominente aus dem Ausland teil, darunter etwa Papst Johannes Paul II., die britische Königin Elizabeth II. oder Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber auch an "normalen Tagen" pilgern die Menschen in Scharen zu dem Tor. "Die Besucher sollen an diesem historischen Ort darüber nachdenken, was Krieg wirklich bedeutet", sagt der Historiker Dominiek Dendooven.
Die Stadt lag unmittelbar an der heftig umkämpften Westfront. 1918 blieb hier kein Stein mehr auf dem anderen. Der Stolz Yperns, die gotischen Tuchhallen, lagen ebenso in Trümmern wie die frühere Bischofskirche Sankt Martin. Winston Churchill gehörte zu jenen, die sich gegen einen Wiederaufbau aussprachen. Das Gelände, für die Briten "heiliger Grund", sollte mit seinen Ruinen eine Gedenkstätte werden. Es kam anders - doch das Gedenken blieb.
Teil des "Tannenberg-Denkmals" - stummer Zeuge
Im heute polnischen Teil des ehemaligen Ostpreußen ist Gras über die Sache gewachsen. Zumindest äußerlich. In den 1920er Jahren errichteten die Deutschen bei Olsztynek ihr monströses "Tannenberg-Denkmal" zur Erinnerung an ihre Siege 1914 über die Russen. Das Geschehen wurde von der Propaganda überhöht, sicherte Paul von Hindenburg den Nimbus eines "Befreiers Ostpreußens" und offenbarte bereits bei Kriegsbeginn tiefe Risse im russischen Zarenreich.
Trotzdem endeten die Kämpfe an der Ostfront erst am 3. März 1918 mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Da gab es allerdings schon keinen Zaren mehr in Russland. Stattdessen schwang sich Wladimir Illjitsch Lenin zum starken Mann in dem Riesenreich auf. Den hatten die Deutschen im Frühjahr 1917 die Durchfahrt per Zug auf ihrem Territorium gewährt. Der Schachzug sollte die Verhältnisse beim angeschlagenen Kriegsgegner weiter destabilisieren.
Aus Russland wurde die kommunistische Sowjetunion. Heute Geschichte - ebenso wie das "Tannenberg-Denkmal", das 1945 noch von der Wehrmacht gesprengt und in den 50er Jahren durch polnische Pioniertruppen endgültig abgetragen wurden. In Olsztynek ist ein steinerner Löwe von dem weitläufigen Komplex übrig geblieben. Stummer Zeuge einer Epoche, deren Verwerfungen in das postkommunistische Russland unter Wladimir Putin hineinragen.
Kolonialverbrechen kaum aufgearbeitet
In Tansania dagegen hat ein Denkmal die Zeitläufe unbeschadet überdauert. Mitten in der Küstenmetropole Daressalam richtet ein Bronzesoldat sein Bajonett Richtung Indischem Ozean; ein britischer Askari. So nannten die Kolonialherren ihre einheimischen Hilfstruppen und Träger. Während des Ersten Weltkriegs kämpften Askari im damaligen Deutsch-Ostafrika auf beiden Seiten.
Fern der europäischen Schlachtfelder führte Befehlshaber Paul von Lettow-Vorbeck in der größten deutschen Kolonie eine Art Privatkrieg gegen die Alliierten. "Der tolle Mulla" trieb seine Männer ohne Rücksicht auf Verluste zu immer neuen Guerilla-Attacken an.
"Im Felde unbesiegt" kapitulierten 155 deutsche Soldaten und 1.168 Askari am 14. November 1918 im britisch-rhodesischen Abercorn (heute: Mbala) - drei Tage nach dem offiziellen Waffenstillstand. Lettow-Vorbecks Kolonialverbrechen sind wie viele andere bis heute kaum aufgearbeitet.
Soldaten gruben sich in Gletschern ein
Von Afrika in die Alpen: Dort gruben sich Soldaten im nackten Fels und in Gletschern ein, versuchten, die Stellungen des Gegners mit tonnenweise Sprengstoff in die Luft zu jagen. Der Col di Lana in den Dolomiten verlor deswegen seinen Gipfel. Wenige Kilometer Luftlinie entfernt liegt der Pordoi-Pass. Auf 2.239 Metern über Normalnull erzählt ein kleines Museum die Geschichte der Kämpfe im Hochgebirge.
Auf der anderen Straßenseite geht es zu einer Gedenkstätte des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Der Weg führt vorbei an einer Installation aus Soldatenhelmen und anderen rostigen Relikten. Das gespenstische Gebilde steht im Vorgarten eines Hauses unweit der Passhöhe. Von dort sind es nur wenige Meter bis zu dem wuchtigen Mausoleum.
In der Krypta die Überreste von 8.582 österreichischen und deutschen Toten des Ersten Weltkriegs. Dann mussten die Bauarbeiten unterbrochen werden: Der Zweite Weltkrieg begann. Anschließend waren neue Ruhestätten für knapp 900 weitere Gefallene erforderlich. Henry Nicholas John Gunther mag der letzte Tote 1918 gewesen sein. Das Morden und Sterben in Europa nahm drei Jahrzehnte später noch erschreckendere Dimensionen an.