KNA: Über den Nikolaus gibt es zahllose Bücher. Warum haben Sie ein weiteres geschrieben?
Prof. Manfred Becker-Huberti (Theologe und Brauchtumsforscher): Es gibt neue Erkenntnisse über den Heiligen. Bisher waren die meisten Experten, die sich mit Nikolaus befasst haben, überzeugt, dass er sich nicht datieren lässt. Inzwischen glaubt die Mehrheit der Forscher, dass man ihn historisch im 4. Jahrhundert festmachen kann - auch wenn das nicht im streng wissenschaftlichen Sinn bewiesen ist. Die Angaben, die in einigen Heiligenlegenden enthalten sind, könnten also stimmen. Außerdem wurde festgestellt, dass die Nikolaus-Reliquien, die andernorts aufbewahrt werden, identisch sind mit jenen Reliquien, die in Bari liegen. Sie stammen von demselben Skelett.
KNA: In dem Nikolaus-Lexikon Ihres Buches findet sich unter "G" sogar der Gartenzwerg, der auf den heiligen Nikolaus zurückgehen soll. Das müssen Sie erklären...
Becker-Huberti: Der verzwergte und vervielfältigte Weihnachtsmann aus Steingut ist eine Erfindung von Philipp Griebel aus dem thüringischen Gräfenrode. Im September 1883 formte er den ersten Gartenzwerg aus Terrakotta und erweckte damit eine ganze Industrie zum Leben.
Als "kleine Helfer" des amerikanischen "Father Christmas" tauchten die bärtigen Miniatur-Klons schon früh in amerikanischen Weihnachtsmann-Zeichnungen auf. Die Ableitung des Gartenzwerges vom heiligen Nikolaus ist noch an zwei Elementen zu erkennen: dem langen Bart und vor allem an der spitzen und natürlich (bischofs-)roten "Zipfelmütze", die beim klassischen Gartenzwerg nach vorn geneigt ist und so exakt die typische zentralasiatische Mütze wiedergibt. Manche Zwergenforscher sehen allerdings keine Verbindung von Gartenzwerg und Nikolaus.
KNA: Zurück zu Nikolaus: Was macht ihn zu einem der meistverehrten Heiligen der Christenheit?
Becker-Huberti: Er ist schnell Liebling der Kinder geworden, vor allem nördlich der Alpen. Denn schon früh gab es ein Kinderbeschenkfest, nämlich am 28. Dezember, dem Tag der Unschuldigen Kinder. Dieses Schenken ist dann zum Nikolaus verlagert worden, der ja auch schenkt. Das ist etwas anderes, als dass man den Kindern ein paar Bonbons in die Hand drückt. Hier wird beim Schenken nachvollzogen, was Nikolaus tut. Die Kinder erleben an diesem Tag, was es bedeutet, wenn der Himmel die Erde berührt.
KNA: Und welche Botschaft hat der heilige Mann für die Erwachsenen?
Becker-Huberti: Nikolaus ist nicht einfach einer, der eine große Stiftung hat, von der aus er Mittel verteilt. Als junger Mann wird er Vollwaise, er sieht sein Vermögen als Verpflichtung, damit anderen Menschen zu helfen. Von Nikolaus können wir etwas lernen, was heute völlig verlottert ist: die Schenk-Kultur.
Es geht nicht um besonders viel, das Neueste oder Teuerste. Vielmehr geht es darum, sich dem anderen zuzuwenden. Schenker, Beschenkter und Geschenk sind dann eine Einheit. Diesen alten Gedanken muss sollte man wieder entdecken.
KNA: Was hat Nikolaus uns heute, jenseits des netten Brauchtums, zu sagen?
Becker-Huberti: Nikolaus ist einer, der selbstlos ist. Sein Ziel ist nicht, sein Vermögen zu vermehren - das hätte er prima machen können. Stattdessen geht er auf andere zu und hilft ihnen in ihrer Schwäche. Das ist etwas, was unsere Gesellschaft heute verdammt nötig hat.
Heute sieht jeder nur noch seine eigenen Interessen. Der Nikolaus zeigt, dass es auch anders gehen kann. Er sagt uns auch: Das was ich habe, ist nichts, das ich ewig besitzen werde. Ich lebe nur auf Zeit, und ich werde mich an irgendeinem Tag bei Gott für mein Leben verantworten müssen. Ich bin also ständig gefragt, ob mir das, was ich tue, dabei später dient oder schadet.
Sinn des Lebens ist es nicht, möglichst viel, möglichst schnell zusammenzuraffen und anderen wegzunehmen. Sondern mein Ziel ist es, mit anderen gemeinsam am Ziel anzukommen.
KNA: Haben Sie einen Vorschlag, wie Erwachsene den Nikolaustag begehen können?
Becker-Huberti: Ich kenne durchaus auch Erwachsene, die sich den Nikolaus bestellen, etwa eine Frauengemeinschaft oder ein Kegelverein. Im besten Falle ist das ein kluger und weiser Mensch, der einem und der ganzen Gruppe etwas mit auf den Weg gibt. So ein Impuls kann dann noch Monate später nachwirken.
Das Interview führte Angelika Prauß.
(Es wurde am 6. Dezember 2022 erstmalig veröffentlicht.)