KNA: Herr Brummer, wie ist die Idee zur Fastenaktion entstanden?
Arnd Brummer (Geschäftsführer der Aktion "Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen"): Unser Kuratorium trifft sich ein gutes Jahr vor der nächsten Fastenzeit und entscheidet sich für ein Thema. Die Debatten um die "Lügenpresse" haben für das Motto 2019 nicht die zentrale Rolle gespielt. Es geht um den alltäglichen Umgang mit Wahrnehmung und Wahrhaftigkeit. Die politische und mediale Ebene ist wichtig, wir wollen es aber nicht darauf verkürzen.
KNA: Wahrheit, Wahrnehmung, Wahrhaftigkeit - wie hängt das miteinander zusammen?
Brummer: Von dem Theologen Paul Tillich stammt der Satz: "Gott ist die Wahrheit – wir können sie nicht besitzen." Wir können aber bitten und beten, ihr möglichst nahe zu kommen. Wahrhaftig wiederzugeben, was wir wahrnehmen: Das ist der entscheidende Punkt für den persönlichen Umgang - und übrigens auch für den Journalismus. Ehrlich sein – das heißt: nicht verfälschen oder verschleiern. Eine solche Haltung entspricht nicht unbedingt der Grundlinie von Public Relations, Werbung oder den persönlichen Strategien zur Optimierung.
KNA: Sie deuten es an: Für das Lügen kann es sehr unterschiedliche Motive geben ...
Brummer: Offenkundig wird das etwa bei Beschönigungen. Ein Beispiel:
Ich bin zum Essen eingeladen und antworte auf die Frage der Gastgeberin, wie es geschmeckt hat: "Hervorragend!" Später im Auto sage ich zu meiner Frau: "So ein Mist, was die da zusammengekocht hat." Die Frage ist, wie könnte ich meine Wahrnehmung wiedergeben, ohne zu lügen und ohne zu verletzen? Vielleicht könnte ich sagen: "Du hast dir viel Mühe gemacht, aber es ist nicht ganz mein Geschmack." Diese Reflexionsebene wünschen wir uns für den Alltag.
KNA: Studien zufolge lügt jeder bis zu 200 Mal am Tag. Ziemlich viel, oder?
Brummer: Das ist viel. Mehr als die Hälfte der Deutschen hält es nach einer Umfrage für vertretbar, in dem eben beschriebenen Bereich nicht ganz so ehrlich zu sein. Auch in beruflichen Zusammenhängen wird viel beschönigt, zum Beispiel in Vorstellungsgesprächen. Anstatt zu behaupten, man habe viel Ahnung von einem eigentlich unbekannten Thema, könnte man auch zugeben: "Da kenne ich mich noch nicht so aus. Ich möchte mich aber gerne einarbeiten."
KNA: Das erfordert Mut. Braucht auch die Kirche mehr Mut zur Wahrheit?
Brummer: Die biblischen Tempelpriester haben gegenüber den Propheten den Standpunkt vertreten, die Institution habe immer Recht. Ich glaube, dass Institutionen aus Menschen bestehen - mit allen menschlichen Stärken und Schwächen. Es geht auch in Institutionen darum, gemeinsam zu lernen, unterschiedliche Wahrnehmungen mitzuteilen und mögliche Irrtümer einzuräumen. Der Mut zur Wahrheit kann übrigens unterschiedliche Konsequenzen haben: So haben Menschen in der NS-Zeit auch Notlügen eingesetzt, um Juden vor der Verfolgung zu schützen. Die Wahrheit der Nazis war eine verlogene, der man bisweilen nur mit einer - eigentlich wahren – Notlüge widerstehen konnte.
KNA: "7 Wochen ohne" setzt bewusst auf das etwas "andere" Fasten neben den Klassikern wie kein Fleisch, kein Alkohol, keine Schokolade. Was ist das Besondere daran?
Brummer: Das Konzept steht in der Tradition des Reformators Ulrich Zwingli: 1522 gab es nach dem Aschermittwoch ein Wurstessen in Zürich – und allgemeine Empörung. Mit einer Predigt hat Zwingli die Reformation in Zürich ausgelöst. Demnach geht es in diesen 40 Tagen um die Erinnerung daran, wie Jesus Christus in der Wüste darüber nachgedacht hat, ob er dem Weg seines Vaters folgen kann. Dass er dort wenig gegessen hat, lag nicht an einem Vorsatz, sondern an den Umständen – sein Hauptinteresse war die Reflexion. Wer also in der Fastenzeit wenig essen möchte, kann das tun. Zentral ist aber die Frage, wie man das eigene Leben gestalten möchte und welche Änderungen sinnvoll sein könnten.
Das Interview führte Paula Konersmann.