Die Oberhirten stehen unter dem Eindruck des Anti-Missbrauchsgipfels im Vatikan, der eine erhebliche Veränderung in der innerkatholischen Debatte brachte und dennoch nicht den Eindruck vermittelte, dass die Kirche das Problem im Griff hat. Hinzu kommen die jüngsten Verurteilungen des vatikanischen Ex-Finanzministers Kardinal George Pell in Australien und von Kardinal Philippe Barbarin in Frankreich.
"Systemisches" Übel
All dies verfestigte das Bild, das sich die öffentliche Meinung in Deutschland bereits im September 2018 machte. Damals wurde eine Studie aus Kirchenakten der vergangenen 70 Jahre vorgelegt, die Tausende tatsächliche und mutmaßliche Missbrauchsfälle zum Gegenstand hatte. Sie wurde als Offenbarung eines weit verbreiteten und "systemischen" Übels in der katholischen Kirche kommentiert. Damals hat die Deutsche Bischofskonferenz angekündigt, sich die Empfehlungen der Forscher zu eigen zu machen.
Zwei ganz unterschiedliche Hausaufgaben schleppen die Bischöfe seither mit sich. Die eine betrifft Verbesserungen bei Bekämpfung und Prävention, die andere wird unter dem Schlagwort "Auseinandersetzung mit den systemischen Ursachen des Missbrauchs" zusammengefasst. Die konkrete Seite ist wenig attraktiv und enthält mühsames Kleinklein.
Aufarbeitung und "Entschädigungszahlungen"
Dazu zählen Begegnungen mit Betroffenen, die Aufarbeitung der Fälle mit externen Fachleuten und eine neue Herangehensweise an das Thema "Entschädigungszahlungen", deren bisherige Höhe von generell 5.000 Euro von manchen Betroffenen als schierer Hohn aufgefasst wird. Aber auch so Unspektakuläres wie die "Verbesserung der kirchlichen Personalaktenführung gemäß dem Standard staatlicher Stellen" und ein "überdiözesanes Monitoring für die Bereiche Prävention und Intervention" gehört dazu.
Diese Aufgaben, für die sich vor allem der Trierer Bischof Stephan Ackermann stark macht, sind undankbar, weil sie in der medialen Wahrnehmung häufig durchs Raster fallen. Die aber immer dann, wenn sie nicht funktionieren, zu großen Skandalen führen - etwa, wenn Akten verschwinden, eben weil die Aktenführung schlampig ist.
"Aspekte der katholischen Sexualmoral"
Mehr Beifall in den Medien bekommen jene, die sich "systemischen Fragen" widmen. Dazu zählen laut Bischofskonferenz "die für die katholische Kirche spezifischen Herausforderungen wie die Fragen nach der zölibatären Lebensform der Priester und nach verschiedenen Aspekten der katholischen Sexualmoral". Daraus ist in der Öffentlichkeit längst die Forderung nach einer "Abschaffung des Pflichtzölibats" und einer liberalen Sexualmoral geworden.
Europas größte Boulevardzeitung unterstrich dies in der vergangenen Woche mit einem "Thesenanschlag" an die Adresse des Papstes. Von den 12 Thesen der "Bild"-Zeitung liefen vier darauf hinaus, dass sich die katholische Kirche endlich der evangelischen anpassen müsse - etwa durch eine Abschaffung des Zölibats und der Glaubenskongregation oder die Demokratisierung der Kirche.
Reformer in der Kirche
Ein solcher Vorstoß eines Massenmediums wäre noch vor wenigen Jahren in Deutschland undenkbar gewesen. Auch im Inneren der Bischofskonferenz hat sich das Diskussionsklima verändert. Immer mehr Bischöfe denken laut über Veränderungen beim Zölibat, in der Sexualmoral und beim Frauenpriestertum nach. Zu den treibenden Kräften zählen der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode und sein Hildesheimer Nachbar Heiner Wilmer. Aber auch die Bischöfe von Magdeburg, Limburg und Essen sowie mit Abstrichen die von Berlin, Mainz, Münster und Freiburg haben sich in den turbulenten Debatten der vergangenen Monate als Reformer positioniert.
Mittlerweile scheint knapp die Hälfte der deutschen Diözesanbischöfe dafür offen, über Veränderungen zu debattieren, die noch vor wenigen Jahren nur eine kleine Minderheit für diskussionswürdig gehalten hätte. Ihnen gegenüber stehen jene, die davor warnen, die "Kirche neu zu erfinden" und an den Auftrag zur Weitergabe der überlieferten Lehre erinnern. Sie scharen sich um den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki und den Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer. Die unentschiedene Mitte scheint hingegen kleiner zu werden.
Kardinal Marx als "Moderator"
Für den Münchner Kardinal Reinhard Marx als Konferenz-Vorsitzenden ergibt sich eine neue Rolle. Sah er sich bis vor kurzem oft in der Rolle des "Motors", der eine wenig reformwillige Konferenz voranzubringen versuchte, kommt ihm nun eher die Rolle des "Moderators" zu, der zwischen einem ungestümen Reformflügel und einer konservativen Richtung vermittelt. Daneben muss ihm das Kunststück gelingen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit endlich auch wieder auf andere Themen zu lenken.
"Zukunft der Demokratie"
Dazu gehören ein neuer Vorstoß für mehr Frauen in Führungspositionen der kirchlichen Verwaltung sowie Richtlinien zum Umgang mit Populisten. Bei diesem drängenden Thema sucht die katholische Kirche den Schulterschluss mit der evangelischen Seite. Einen Monat nach Lingen soll ein gemeinsames Papier der beiden nicht mehr ganz so großen Kirchen zur "Zukunft der Demokratie" vorgestellt werden. Ohne ein Minimum an eigener moralischer Glaubwürdigkeit wird dies allerdings wenig Wirkung erzielen können.