DOMRADIO.DE: Das Buch ist gerade rausgekommen. Sie beschreiben in zwölf Kapiteln die Menschen und die Begegnungen mit ihnen in der Hauptstadt. Was sind das denn für Menschen, denen Sie da begegnen?
Erzbischof Heiner Koch (Erzbischof von Berlin): Sehr unterschiedliche Menschen. Es gibt nicht den typischen Berliner. Die Menschen sind hier ganz bunt. Es gibt die alteingesessenen Berliner. Heute in der Minderheit sind die, die in der DDR groß geworden sind. Es gibt die, die aus dem Westen gekommen sind, als Berlin zu war. 25 Prozent unserer Katholiken sind international, also nicht Deutsch muttersprachlich. Es ist eine bunte Mischung. Deshalb gibt es auch nicht einen Typus und eine Geschichte, die für Berlin steht.
DOMRADIO.DE: Greifen Sie mal eine Geschichte aus dem Buch raus.
Koch: Eines Abends, als ich mit dem letzten Zug gefahren bin, kam ich mit einem Schaffner ins Plaudern. Ich war zwar als Priester erkennbar, aber ich weiß nicht, ob er mich erkannt hat. Wir sprachen über Fußball und den Heimatverein Union Berlin, aber auch über die Situation des Senats und schwindender Baupläne. Wir sind an der Endstation dann beide ausgestiegen. Als wir nebeneinander her zum Ausgang gingen und in einem Moment, wo wir uns nicht anschauten, da fragte er mich plötzlich: "Glauben Sie wirklich an Gott?" "Ja", sagte ich, "ich glaube wirklich an Gott". Wir gingen weiter. "Glauben Sie wirklich, dass mit dem Tod nicht alles aus ist?" Wieder erwiderte ich, dass ich daran glaube. Wir gingen weiter und plötzlich blieben wir stehen. Er fragte erneut: "Glauben Sie wirklich, dass wir weiterleben werden?" Als ich wieder "Ja" sagte, dreht er sich mir zu, hielt die Hand und sagte: "Was haben Sie es gut!"
Wissen Sie, hier in Berlin lernen Sie kennen, wie wertvoll und großartig unser Glauben ist. Bei allem, was auch schwierig in Gemeinden und in der Kirche ist. Hier lernt man wirklich Christus, den Glauben und das Evangelium zu schätzen.
DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie das denn persönlich als katholischer Erzbischof, wo die Katholiken eine Minderheit sind? Welche Stellung hat da die Kirche?
Koch: Ich habe in der ganzen Zeit hier keine Anfeindungen erlebt. Wir sind schon für viele wieder so exotisch, dass wir wieder interessant sind. Es gibt auch die, die uns als Kirche sehr kritisch und ablehnend sehen. Das ist gerade in der Generationen, die in der DDR gelebt hat, so gewesen. Aber im Großen und Ganzen begegnen uns die Berliner respekt- und erwartungsvoll. Irgendwie warten sie darauf, dass es hier Christen gibt.
DOMRADIO.DE: Wie meinen Sie das?
Koch: Zum Beispiel: Bei einer Diskussion saß ich mit einem Professor zusammen auf einem Podium. Er vertrat den Atheismus als Grundperspektive wissenschaftlichen Handelns. Zwei oder drei Tage später traf ich ihn mit seiner von Krankheit gezeichneten Frau an seiner Seite auf der Straße wieder. Wir kamen ins Gespräch, setzten uns in ein Straßencafé. Dann kamen wir auf das Thema Sterben. Seine Frau sprach sehr offen und ehrlich darüber, wie sie die Situation als Nicht-Glaubende für sich empfand. Wir haben uns dann verabschiedet. Ich habe gesagt: "Auch wenn Ihnen das jetzt nicht viel bedeutet, ich werde für Sie beten."
Zwei Wochen später bekam ich die Todesanzeige. Ich habe kondoliert. Und wieder drei Tage später - noch vor der Beerdigung - traf ich ihn auf der Straße. Da sagte er: "Kommen Sie zur Beerdigung meiner Frau?" Dann kam nach einer kurzen Pause: "Sonst ist keiner mit Ihrer Hoffnung dabei." Ich bin zur Beerdigung gegangen und habe mich in eine der letzten Reihen gesetzt. Er hat gelächelt und meine Hand gedrückt, als er mich gesehen hat.
Da wissen Sie, wofür Sie stehen. Das ist für mich das Schöne an diesen Begegnungen. Da merkt man, dass Gott in dieser Stadt mittendrin präsent ist.
DOMRADIO.DE: Sie haben das Ganze "Zu Gott ums Eck" genannt. Warum hat das Buch den Titel?
Koch: Weil vieles hier nicht gradlinig läuft. Sie müssen manchmal die Seitenstraße wechseln, Sie müssen mal anhalten, Sie müssen manchmal die Richtung wechseln, die Perspektive. Sie müssen gewohnte Wege verlassen. Gott ist da. Das glaube ich. Da bin ich fest von überzeugt. Vielleicht ist er für manche nicht so gradlinig und nicht so offensichtlich da. Manchmal muss man schon den Blick um die Ecke wagen und vielleicht um die Ecke gehen. Dann spürt man, dass er doch da ist.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.