Die 100-Jährigen von heute haben viel durchlebt: die Weimarer Republik, Hitler, das geteilte Deutschland und dann auch die Wiedervereinigung. Bevölkerungswissenschaftler prognostizieren, dass es künftig deutlich mehr Menschen in Deutschland geben wird, die so lange Lebensspannen überblicken können. Vor allem Frauen.
Lebten im Jahr 2000 noch knapp 6.000 Hundertjährige in Deutschland, sind es heute schon mehr als 16.000. Und die Lebenserwartung steigt weiter. Mehr als jedes dritte im Jahr 2019 geborene Mädchen (37 Prozent) wird den 100. Geburtstag erleben, prognostizierte das Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung in einer am Dienstag veröffentlichten Studie im Auftrag der deutschen Versicherungswirtschaft.
Alter von 90 wird in Zukunft völlig normal
Demnach werden 77 Prozent der neugeborenen Mädchen ihren 90. Geburtstag erreichen. Die durchschnittliche Lebenserwartung neugeborener Frauen geben die Rostocker Forscher mit 94,8 Jahren an. "Ein Alter von 90 wird in Zukunft völlig normal", sagt Dmitri Jdanov, verantwortlicher Wissenschaftler am Max-Planck-Institut.
Von den heute geborenen Jungen können 11 Prozent auf das Erleben des 100. Geburtstages hoffen. 59 Prozent werden ihren 90. Geburtstag erreichen. Die durchschnittliche Lebenserwartung neugeborener Männer gibt das Max-Planck-Institut mit 88,6 Jahren an - sechs Jahre weniger als bei Frauen.
Deutschland verändert sich. Und das bringt Veränderungen nicht nur für Renten- und Krankenversicherungen. Das Land befinde sich "auf dem Weg zur Greisen-Republik", hieß es 2007 in der fiktiven ZDF-Dokumentation "2030 - Aufstand der Alten". Verarmte, vereinsamte Rentner, in den Suizid getrieben: ein Horrorszenario, für das es derzeit kaum Anzeichen gibt.
Traditionelle Lebensmodelle stehen infrage
Doch natürlich stehen traditionelle Lebensmodelle infrage: Bedeutet längere Lebenserwartung auch längeres oder verändertes Berufsleben? Wie verändert sich das Verhältnis der Generationen zueinander und wie können Beziehungen über so lange Zeiträume stabil bleiben?
"Die Alten von morgen haben mit ihren Großeltern etwa so viel gemeinsam wie das Telefon der 50er Jahre mit dem Smartphone von heute", macht der Volkswirtschaftler Thomas Straubhaar in der 2016 veröffentlichten Studie "Der Untergang ist abgesagt" Mut. Schließlich sind die Senioren heute zufriedener als vor 20 Jahren. Sie fühlen sich jünger und fitter und haben im Schnitt mehr Geld in der Tasche.
Das zeigen etwa die 2017 veröffentlichten Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP): Auf einer Skala, die von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) reicht, lag die durchschnittliche Zufriedenheit der Senioren 1995 noch bei 6,8 - zwanzig Jahre später bereits bei 7,2. Nach einer 2017 veröffentlichten Studie des Versicherungskonzerns Generali fühlten sich die 65- bis 85-Jährigen im Schnitt rund 7,5 Jahre jünger.
Wissenschaftler widersprechen auch der Annahme, dass Senioren im Alter zunehmend vereinsamen. Zwei Drittel der 65- bis 85-Jährigen leben mit einem Partner zusammen. 69 Prozent können auf einen Freundes- und Bekanntenkreis zurückgreifen - das soziale Netzwerk hat sich stark erweitert, wie das Deutsche Zentrum für Altersfragen 2017 ermittelt hat. Offen ist allerdings, ob sich das fortsetzt. Denn Menschen im mittleren Lebensalter leben heute seltener in langjährigen Ehen und bleiben häufiger kinderlos.
Medizin vor große Herausforderungen
Auch sonst lassen sich Probleme nicht leugnen. Schon heute stellt die wachsende Zahl alter Menschen die Medizin vor große Herausforderungen, etwa im Krankenhaus. "Auf die Altersmedizin in Deutschland rollt ein Tsunami zu", analysiert die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie. Das erfordert Umdenken: etwa besondere Kenntnisse über Mehrfacherkrankungen, die Wechselwirkungen von Arzneimitteln, zunehmende Pflege bei Demenz.
"Je älter der Mensch wird, desto kleiner wird sein Aktionsradius", so beschreibt der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse die Einschränkungen. Um so wichtiger würden Wohn- und Lebensort. Städte und Gemeinden müssten gestärkt werden, um gut erreichbare Geschäfte, geeignete Wohnungen, lebendige Nachbarschaften sowie eine gute medizinische und pflegerische Versorgung garantieren zu können.