Mit seinem gescheitelten Haar, der modischen Brille und gepflegten Manieren trat der Kalifornier John Earnest nicht gerade wie ein potenzieller Massenmörder auf. Mika Edmondson, Pastor der evangelikalen Orthodox Presbyterian Church (OPC), der auch Earnest angehörte, würde gerne verstehen, was den jungen Mann letztlich zu seiner Tat trieb.
Als der Geistliche erfuhr, welches Verbrechen der 19-Jährige in der Synagoge von Poway verübt hatte, konnte er es kaum fassen. "Das gibt uns Anlass, Gewissensforschung zu betreiben", sagt Edmondson in einem Interview der "Washington Post". Mit einem Sturmgewehr betrat der Täter vor einer Woche die Synagoge und schoss auf die dort versammelten Gläubigen.
Eine Art Bekennerschreiben im Internet
Im Internet kursiert eine Art Bekennerschreiben, in dem er seine Motive darlegt. Der Pastor hat die sieben Seiten gelesen. Es handelt sich um ein Sammelsurium wirrer Gedanken und eine schräge Interpretation des Christentums. Der Text offenbart eine antisemitische Weltsicht, aber auch Hass auf andere Minderheiten.
"Wir können nicht so tun, als hätten wir gar keine Verantwortung dafür", sagt der Prediger selbstkritisch. "Er ist aus der Mitte unserer Kirche heraus zu einem weißen Nationalisten radikalisiert worden." Edmondson selbst ist eine Ausnahmeerscheinung innerhalb der OPC. Er ist der einzige afroamerikanische Pastor der rund 30.000 Mitglieder umfassenden Glaubensgemeinschaft, die zu 80 Prozent aus Weißen besteht.
Die OPC wurde in den 30er Jahren von konservativen Calvinisten als Gegenbewegung gegen eine um sich greifende modernistische Theologie gegründet. Andere Evangelikale betonen heutzutage ihre Freundschaft zu Israel, weil sie die jüdische Präsenz im Heiligen Land als Voraussetzung für eine Wiederkehr Christi erachten. Die OPC-Mitglieder teilen diese Sichtweise nicht.
Der Fortbestand Israels sei "an sich nicht von Bedeutung", heißt es in einem Positionspapier der Kirche. Der Religionsexperte John Fea meint, in der OPC sei die Ansicht verbreitet, die Christen hätten Gottes Versprechen an das Volk Israel quasi geerbt. Damit sei die Existenz eines jüdischen Staates keine Voraussetzung für eine Wiederkehr des Heilands.
Earnest bezieht sich in seinem "Manifest" auf Teile der OPC-Theologie. Er sei nicht wegen seiner Taten erlöst, sondern weil Gott ihn auserwählt habe. "Ich habe mir nicht ausgesucht, ein Christ zu sein. Der Vater hat mich ausgewählt. Der Sohn hat mich erlöst. Der Geist hat mich erhalten", schreibt er.
"So etwas hat bei uns keinen Platz"
"In mancherlei Hinsicht hat er in der Kirche gut aufgepasst", schlussfolgert Duke Kwon, ein presbyterianischer Theologe aus Washington. "Ich glaube, wir müssen uns alle eine Auszeit nehmen und uns kritisch hinterfragen." Das will auch Chad Woolf, ein evangelikaler Pastor aus Fort Myers. Gegenüber der "Washington Post" verlangt er, für christliche Gemeinden sollten dieselben Maßstäbe gelten wie für muslimische.
Nach Anschlägen von Islamisten werde immer wieder die Forderung erhoben, Muslime müssten diese Taten verurteilen. "Wir müssen dasselbe tun", sagt Woolf. Er verurteile "weißen Nationalismus aus ganzem Herzen". Auch die OPC distanzierte sich in einer Stellungnahme ausdrücklich von der Bluttat in der Synagoge: Offenbar hätten Antisemitismus und Rassenhass den Täter motiviert. "So etwas hat bei uns keinen Platz."
Allerdings bleibt die Frage offen, wie aus einem scheinbar braven Kirchgänger ein radikaler Judenhasser werden konnte. Earnests Familie hat keine Erklärung und weist die krude Weltsicht Johns entschieden zurück. Woher aber kommt dann all der Hass? OPC-Pastor Edmondson will dem weiter auf den Grund gehen, sagt er. Die Gewissensforschung wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.