DOMRADIO.DE: Artikel 4 des Grundgesetzes lautet: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich". Wir haben hier in Deutschland schon über die Beschneidung von Juden und Muslimen diskutiert, über das Schächten und jetzt aktuell über ein Kopftuchverbot für Mädchen – hat Religionsfreiheit auch Grenzen?
Volker Kauder (Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2005 bis 2018 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion): Ja, die Religionsfreiheit hat Grenzen. Bei uns steht nicht die Religion über dem Staat, sondern das Grundgesetz steht über der Religion. Es ist im Einzelfall immer ein Abwägungsvorgang, ob bestimmte Praktiken und Riten zulässig sind oder nicht.
DOMRADIO.DE: Es gibt sogar manche, die sagen, zu viel religiöse Toleranz habe dazu geführt, dass in Deutschland Moscheegemeinden zum verlängerten Arm von Erdoğan wurden oder sich auch der radikale Islam überhaupt entfalten konnte. Muss man so etwas vielleicht auch aushalten, wenn wir doch so ein Gesetz haben?
Kauder: Wir sind das Land der Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit wurde in Europa erkämpft und sie gehört zum Grundbestand der Freiheitsrechte der Bürger. Ich bin ja auch viel in der Welt unterwegs, setze mich für verfolgte Christen in China, in Ägypten und überall ein. Und wenn ich nicht bei uns auf die Religionsfreiheit setzen kann, kann ich sie in anderen Ländern auch nicht einfordern.
Deswegen gilt: Religionsfreiheit heißt, dass jede Gruppe bei uns in Deutschland ihre Einrichtungen bauen darf. Die Muslime dürfen ihre Moscheen bauen, allerdings im Rahmen des geltenden Baurechts. Es kann nicht jeder bauen, wie er will. Aber ein echtes Problem ist in der Tat, dass wir in vielen Moscheen Imame haben, die in der Türkei ausgebildet wurden, die aus der Türkei kommen. Diese Moscheen stehen dann auch unter dem Regiment der Religionsbehörde in der Türkei. Da wird es schon notwendig werden, etwas zu verändern.
DOMRADIO.DE: Wie ist das für Sie, wenn Juden hier in Deutschland sagen: "Ich traue mich nicht mehr mit der Kippa auf dem Kopf auf die Straße zu gehen."
Kauder: Es ist deprimierend, schrecklich, nicht auszuhalten. Ich finde es schon ganz schlimm, wenn ich in Berlin an der Synagoge vorbeilaufe und dort Polizei sehe, die die Synagoge schützen muss. Und das, nach allem, was bei uns in Deutschland passiert ist. Das ist unerträglich. Diese Religionsfreiheit muss natürlich auch geschützt werden.
DOMRADIO.DE: Giibt es auch Aspekte, wo es noch Nachbesserungsbedarf gibt?
Kauder: Den gibt es ja immer. Es ist zum Beispiel auch nicht hinnehmbar, wenn christliche Flüchtlinge in Einrichtungen attackiert werden. Wenn Muslime, die konvertiert sind zum Christentum, dann dafür attackiert werden. Das heißt, die Verfassung muss jeden Tag auch neu umgesetzt werden. Sie gewährleistet sich nicht selber. Und so müssen auch die einzelnen Artikel immer wieder auch geschützt werden. Das Thema Religionsfreiheit bleibt auf der Tagesordnung.
DOMRADIO.DE: Hat die Bundesregierung da genug gemacht oder wünschen Sie sich da manchmal auch ein bisschen mehr Engagement?
Kauder: Die Bundesregierung hat da sehr viel gemacht, auch mit unserer Mithilfe aus dem Parlament. Wir haben jetzt einen Beauftragten für Internationale Religionsfreiheit, der demnächst wieder einen Bericht abgeben wird. Religionsfreiheit ist nicht nur ein Thema in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Das wird zunehmend schwieriger. Deswegen hat die Bundesregierung hier schon sehr viel gemacht. Auch im Parlament wird darüber diskutiert. Insgesamt hat die Religionsfreiheit in der letzten Zeit einen größeren öffentlichen Stellenwert gewonnen.
DOMRADIO.DE: Auch wenn immer weniger Menschen einer Kirche angehören?
Kauder: Ja. Das könnte dann zu einem Minderheitenrecht werden. Aber die Glaubensfreiheit des Artikel 4 schützt ja auch diejenigen, die nicht glauben. Wenn die mal in der Mehrheit sein sollten, können die sich auch darauf berufen. Aber eins erscheint mir ganz wichtig: Wenn ich in China oder in anderen Ländern unterwegs bin, kann ich sagen: Dort, wo es keine Religionsfreiheit gibt, gibt es auch keine Freiheit.
Das Interview führte Verena Tröster.