Erst 1976 entschied Papst Paul VI. diese Frage: Die preußische Mystikerin Dorothea von Montau, die am 25. Juni 1394 in ihrer Klause am Dom in Marienwerder starb, war eine Heilige; sie war begnadet mit besonderen Charismen wie der Prophetie. Der Schriftsteller Günther Grass hat in seinem Roman "Der Butt" zudem noch eine feministische Sichtweise herausgearbeitet: Dorothea als Vorkämpferin gegen eine dominante Männergesellschaft.
Die Danziger hatten einst Probleme, ihr merkwürdiges Verhalten einzuordnen: Dorothea konnte sich nicht erheben, wenn die Gemeinde vor der gewandelten Hostie aufstand: Überwältigt von der Fülle ihrer Empfindungen fiel sie in Ekstase; ganz ergriffen von dem Anblick wälzte sie sich wie eine Betrunkene auf dem Boden. Kein Wunder, dass die unbequeme und verhaltensauffällige Mitbürgerin vielen ein Ärgernis war.
Besonders innige Verehrerin der Eucharistie
Im Juli 1391 wurde Dorothea deshalb vor ein geistliches Gericht zitiert. Ihr wurde mit dem Feuertod wegen Ketzerei gedroht. Dabei war Dorothea eine besonders innige Verehrerin der Eucharistie. Mutig forderte sie ihre Richter auf, sie wegen ihres "Glaubens zu verbrennen". Doch der Prozess wurde eingestellt. Im preußischen Marienwerder am Rand des Weichseltals fand die Witwe schließlich Zuflucht.
Ihr ganzes Leben war von großer Spiritualität geprägt. Sie wuchs mit vielen Geschwistern in einer frommen, begüterten Bauernfamilie auf.
Von ihrer Mutter lernte Dorothea schon früh fromme Übungen, ihre "innere Arbeit". Gottvertrauen half ihr auch, ein Unglück als Sechsjährige zu verkraften. Eine unachtsame Magd verbrühte sie damals mit kochendem Wasser. Das Mädchen, erfüllt von der Vorstellungs- und Bilderwelt der Bibel, glaubte eine innere Stimme zu hören: "Ich mache dich zu einem neuen Menschen!" Die Erfahrung von eigenem Leid eröffnete ihr - wie anderen Mystikern - einen ganz besonderen Weg zum Heil.
Dabei übte sie bei aufkeimenden Versuchungen härteste Askese: strenges Fasten, durchwachte Nächte und Selbstkasteiungen mit Geißel oder kratzigem Hemd - die heute selbstquälerisch anmutende Bußpraxis ihrer Zeit. Wie so viele Mystiker meinte sie, die Wundmale Christi empfangen zu haben. Die Stigmata nannte sie die "großen Wunden von Gott".
Heirat gegen ihren Willen
Gegen ihren Willen wurde die 16-jährige, zur Schönheit erblühte Frau mit einem wohlhabenden, über 40 Jahre älteren Danziger Waffenschmied verheiratet. Sofort kam es zu Konflikten in der Ehe. Denn die junge Frau wollte nicht ihren "nönnischen" Lebensstil aufgeben - auch nicht als Herrin über ein stattliches Haus mit Gesinde. Ihr Mann hielt täglichen Kirchgang für Zeitvergeudung. Mit Geduld ertrug sie die Launen des gichtleidenden Mannes, der im Jähzorn seine Frau manchmal blutig schlug. Ihren neun Kindern war Dorothea eine gute Mutter.
Das Pestjahr 1383 erschütterte Dorothea: Sie verlor alle ihre Kinder bis auf die jüngste Tochter. Die Restfamilie suchte Halt auf Pilgerfahrten, reiste zu westdeutschen Wallfahrtsorten, unter anderem nach Aachen. Zu Jahresbeginn 1385 verspürte die Mystikerin, dass Gott ihr ein neues Herz "überfließender Liebe" einsenkte. Jetzt glaubte sie, täglich die Stimmer des Herrn zu hören. Auf ihrer letzten Pilgerreise besuchte sie 1390 Rom zum Heiligen Jahr ohne ihren alten, kranken Mann. Als sie nach Danzig heimkehrte, war er gestorben.
Im Mai 1389 begegnete Dorothea Johannes Marienwerder, Kanoniker am Dom in Marienwerder. Der nach seinem Geburtsort benannte Theologe wurde der Witwe zum Seelenarzt, der Beichtstuhl zur Psychiatercouch.
Abgeschiedenheit in einer Klause
Dorothea wuchs zur eucharistischen Heiligen; täglich empfing sie die Kommunion. Nach intensiver Prüfung willigten Domkapitel und Bischof in Dorotheas Wunsch ein, sich in einer Zelle einmauern zu lassen - gegen den Willen ihrer frommen Mutter. Diese hielt die nur durch Gitterfenster mit der Außenwelt verbundene Klause ihrer Tochter für ein Gefängnis. Durch das Gitter wurden der Klausnerin Speisen und Getränke gereicht. Aus der Hand ihres Beichtvaters erhielt sie auch täglich die Kommunion.
Für Dorothea aber war die Klause ihr eigenes kleines Reich. Die Abgeschiedenheit gab der einfachen Bürgersfrau ein machtvolles Standing. Unter Berufung auf Visionen hielt sie auf Päpste und Ordenshochmeister Strafpredigten: Die Prophetin warb für die Überwindung des Kirchenschismas und eine Politik des Ausgleichs zwischen Deutschen, Polen und Litauern. Mehrfach sah sie mit innerem Auge Gastmähler der Seele mit Jesus, ihrem "Bräutigam", und den Heiligen. Ihre letzten Tage waren erfüllt von Paradiesvisionen und der Sehnsucht nach dem ewigen Leben.