DOMRADIO.DE: In welche Richtung geht die öffentliche Meinung und die mediale Berichterstattung zu Rackete in Italien?
Christopher Hein (Mitbegründer des Italienischen Flüchtlingsrats und Professor für Einwanderungs- und Asylrecht in Rom): Es geht ein tiefer Riss durch die öffentliche Meinung, durch die Gesellschaft. Es gibt völlig gespaltene Lager. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die wüste Beleidigungen und Beschimpfungen rassistischer und sexistischer Art abgelassen haben, als die Kapitänin von der Polizei festgenommen und abgeführt wurde.
Das verbreitet sich über Social Media, wo sehr viele Menschen meinen, sie könnten ihre niedrigsten Instinkte ungestraft auslassen, weil sie auf der richtigen Welle schwimmen. Eine Welle, die sogar vom Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten vorgezeichnet ist. Das ist außerordentlich erschreckend. Es sind Hasstiraden, die man sich ansehen und anhören muss. Da gibt es keine Möglichkeit, in einen Dialog, in Kontakt oder in ein vernünftiges Gespräch mit diesen Menschen zu treten, die sich in den Social Media Kanälen austoben.
DOMRADIO.DE: Aber es gibt auch das andere Italien?
Hein: Es gibt auch das andere Italien. Viele tausend Menschen haben spontan für die Sea-Watch und für die Seenotrettung im Mittelmeer gespendet. Über 400.000 Euro sind in Italien gesammelt worden - in Deutschland vielleicht noch mehr. Das ist ein Zeichen einer breiten und immer breiter werdenden Solidarität in diesen Tagen, die sich in einigen Medien ausdrückt, aber vor allem auch in mutigen Stellungnahmen von Künstlern, Schauspielern und Sängern. Darunter ist die Sängerin Emma Marrone, die in San Remo einen Preis gewonnen hat und die sich auch auf Facebook Beschimpfungen hat anhören oder ansehen müssen.
Gewerkschaften in Italien versuchen die Aufmerksamkeit auf das wirkliche Problem zu lenken. Das wirkliche Problem in Italien ist ja nicht mehr die Einwanderung, es ist die Auswanderung. In den letzten vier Jahren sind über eine halbe Million überwiegend junge Menschen mit Universitätsabschluss aus Italien in andere Länder gegangen. Dauerhaft. Viele vielleicht für immer. Das ist das wirklich Erschreckende und Besorgniserregende. Davon ist aber im öffentlichen und im politischen Diskurs absolut keine Rede.
Insofern muss man die Diskussion um die Sea-Watch auch unter dem Aspekt einer Umleitung der öffentlichen Meinung sehen - von den wirklich besorgniserregenden Themen hin zu einer Geschichte über 40 Migranten und einer deutschen Kapitänin. Dazu muss man auch sagen, dass sie eine deutsche Frau ist. Leider haben wir mittlerweile nicht nur einen Rassismus gegenüber Afrikanern aus fernen Ländern, sondern auch gegenüber Deutschen.
DOMRADIO.DE: Es hieß, die Sea-Watch-3 habe aufgrund einer Notsituation im Hafen von Lampedusa angelegt. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Kapitänin freigeprochen wird. Sie auch?
Hein: Absolut ja. Es gibt von demselben Gericht in Agrigento ein sehr interessantes Urteil aus dem Jahre 2010 in einem ganz ähnlich gelagerten Fall. Es ging damals um das deutsche Rettungsschiff "Cap Anamur". Es war 2004 unerlaubt in die italienischen Küstengewässer eingelaufen und hatte am sizilianischen Hafen die Flüchtlinge von Bord gehen lassen. Auch dort wurde der Kapitän, der Verantwortliche der Organisation Cap Anamur, für einige Tage festgenommen, das Boot beschlagnahmt.
Fünf Jahre später aber hat das Gericht in Agrigento alle in vollem Umfang freigesprochen und das Schiff freigelassen - mit dem Argument, es gebe ein übergeordnetes, völkerrechtliches Mittel, der den Kapitän nicht nur berechtigt, sondern dazu verpflichtet, die geretteten Menschen an einen sicheren Hafen zu bringen. Erst dann ist die Seenotrettungsoperation zu Ende gegangen. Das ist genau das.
Die italienische Verfassung sieht vor, dass Völkerrecht nationales Recht überlagert und daher Beachtung verdient. Es gibt im italienischen Strafgesetzbuch einen Artikel, der besagt, dass jemand, der ein Vergehen auf Grundlage einer rechtlichen Verpflichtung begeht, nicht strafbar sei.
Das Interview führte Dagmar Peters.