DOMRADIO.DE: Cap Anamur feiert jetzt 40-jähriges Bestehen. Wie gegenwärtig ist Ihnen dieses Gefühl von damals, dass man etwas tun müsse, um die vietnamesischen Flüchtlinge zu retten?
Christel Neudeck (Friedensaktivistin, Mitgründerin von Cap Anamur und Witwe von Rupert Neudeck): Das Gefühl ist sehr gegenwärtig, obwohl wir das alles nicht so geplant hatten. Rupert ging im Februar 1979 nach Paris, um Sartre zu interviewen. Er hatte über Sartre und Camus promoviert und nun die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Die Franzosen haben ihm erzählt, dass sie ein Schiff hätten, um die Flüchtlinge im südchinesischen Meer zu retten. Deren Bilder waren uns sehr gegenwärtig - ähnlich den Bildern vom Jemen oder vom Mittelmeer heute.
Und die Franzosen hatten diese gute Idee, aber kein Geld und baten Rupert, ob er für sie Geld in Deutschland sammeln könne. Rupert fragte Heinrich Böll, ob er mitmachen würde. Dieser rief dann nach zwei Tagen im Deutschlandfunk an, wo Rupert bis zu seiner Pensionierung arbeitete und sagte: "Das müssen wir tun". Und das war der Beginn eines neuen Lebens - auch für mich.
DOMRADIO.DE: Sie, ihr Mann, Heinrich Böll und noch ein paar andere haben damals gehandelt. Sie haben auch in Deutschland ein Schiff für Vietnam ins Leben gerufen. Wie schwer war das? Welche Widerstände mussten Sie überwinden?
Neudeck: Es war insofern schwer, als wir ja gar kein Geld hatten. Franz Alt hat im "Report Baden-Baden" - es gab 1979 nur zwei Fernsehprogramme - die Kontonummer des Spendenkontos genannt. Nach einer Woche hatten wir 1,3 Millionen Mark. Das war für uns der Auftrag, ein eigenes Schiff zu chartern: die Cap Anamur. Bis heute finanziert Cap Anamur alle Projekte aus Spendengeldern. Bei diesem Prinzip sind wir geblieben.
Wir dachten damals, das Ganze dauert drei Monate, dann haben wir kein Geld mehr, weil ein Schiff und Schweröl ja sehr teuer sind. Wir waren, ich würde sagen, jung und naiv und wir dachten, wir können helfen und dann tun wir das. Ertrinkende Menschen darf man nicht ertrinken lassen, auch heute nicht. Aber die Spender haben uns nie verlassen und uns bis heute immer vertraut. Durch diese Spender hatten wir die Möglichkeit, das Schiff Monat für Monat zu finanzieren und insgesamt 11.000 Menschen zu retten.
DOMRADIO.DE: Zusätzlich zu diesen 11.000 Menschen, haben sie 35.000 Menschen an Bord ihres Schiffes medizinisch versorgen können. Ist das der Beweis dafür, dass es sich lohnt, sich für andere einzusetzen?
Neudeck: Es lohnt sich immer. Man muss sich nur vorstellen, man wäre selbst dieser berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Es lohnt sich auch für einen einzigen Menschen. Und wenn man etwas für andere tun kann, ist es viel angenehmer als wenn man selbst Hilfe in Anspruch nehmen muss. Wir konnten immer für andere kämpfen. Das ist viel einfacher. Natürlich gab es Widerstände und Rückschläge. Martin Buber hat gesagt: Erfolg ist kein Name Gottes. Das erfährt man auch, etwa wenn in Syrien drei Mitarbeiter entführt werden. Dann fragt man sich schon, ob man alles richtig gemacht hat. Dann ist es auch nicht nur ein Weihnachten, wenn sich alle drei nach drei Monaten befreien können und man kein Lösegeld zahlen musste. Manchmal ist es sehr, sehr schwierig.
DOMRADIO.DE: Aus der Seenotrettung damals hat sich für Sie und Ihren Mann ein Dauereinsatz für nachhaltige Entwicklung und Friedensarbeit entwickelt. Lange für und mit Cap Anamur, aber auch mit anderen NGOs wie den Grünhelmen. Welchen Raum hat dieses Engagement in ihrem Leben eingenommen?
Neudeck: Ich bin ganz ehrlich: 1979 war ich mit zwei Kindern zuhause und dieses Hausfrauen-Dasein hat mich nicht sehr glücklich gemacht. Rupert war ein Workaholic. Er hat sehr, sehr viel gearbeitet und wollte sich damals habilitieren. Und als er mit dieser Idee aus Paris kam, war ich sofort sehr fasziniert davon und dachte: Wenn er schon so viel arbeitet und damit Menschen helfen und ich mit dabei sein kann, dann machen wir das.
14 Jahre lang war unser Wohnzimmer die Zentrale dieser Organisation. Das hat einfach unheimlich Freude gemacht, zusammen mit Freunden diese Arbeit zu tun. Ich habe mich nie geopfert und Rupert auch nicht. Diese Situation in Syrien, die ich gerade geschildert habe, war ganz furchtbar. Aber meistens ging ja alles gut und meistens war man ganz glücklich, wenn zum Beispiel eine Brücke in Afghanistan kaputt war und man die Möglichkeit hatte, sie wieder aufzubauen. Und es ist ein wunderbares Gefühl, wenn dann der erste Lkw über die Brücke fährt und man nicht mehr durch den Fluss schwimmen muss. Was kann es Schöneres geben als mit Freunden, die das genauso wollen wie man selbst, für andere Erfolg zu haben? Es hat mein Leben bereichert.
DOMRADIO.DE: Als ihr Mann 2016 gestorben war, kamen zur Trauerfeier hunderte von Vietnamesen, wenn nicht noch mehr. War das ein Trost für Sie?
Neudeck: Ach wissen Sie, mein Mann ist jetzt vor gut drei Jahren gestorben und ich kann - wenn ich ehrlich bin - immer noch nicht verstehen, dass er nicht zurückkommt. Er war sehr, sehr viel unterwegs. Aber alle, die das auch erfahren haben, wissen, dass es ein Unterschied ist, ob jemand viel weg ist und zurückkommt oder nicht zurückkommt. In dem Moment habe ich an Trost nicht denken können. Es war natürlich sehr, sehr schön, die Dankbarkeit der Vietnamesen zu empfinden. Ich wusste damals, dass ich den vietnamesischen Freunden eine Möglichkeit geben muss, sich zu verabschieden und war sehr dankbar, dass man uns die große Kirche Sankt Aposteln zur Verfügung gestellt hat.
Und wenn ich das noch sagen darf: Rupert war ein sehr frommer Mann. Ich glaube, das hat sich im Alter eher noch gesteigert. Aber er hat den Glauben immer so gesehen, dass ich fast neidisch darauf war. Er hat auch in Afghanistan zu Muslimen immer gesagt: Wir glauben alle an einen Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat. Deshalb wollte ich, dass bei der Trauerfreier zusätzlich zu der katholischen Messe noch etwas geschieht. Und war dann sehr froh, dass Navid Kermani bei dieser Trauerfeier eine Rede gehalten hat, die das deutlich machte: Gott ist größer als wir denken und allumfassend. Das insgesamt hat mich sehr gefreut.
DOMRADIO.DE: Leben retten sollte selbstverständlich sein, ist es aber nicht. Die EU hat ihre eigene Seenotrettung eingestellt. Private Seenotretter dürfen mit ihren Schiffen nicht in sicheren Häfen anlegen und werden kriminalisiert. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Meldungen darüber hören?
Neudeck: Mir geht durch den Kopf, dass sich leider gar nichts geändert hat und die Situation so ist wie 1979. Ich möchte Heinrich Böll zitieren - denn was er 1980 gesagt hat, ist aktueller denn je: Ich finde, dass man bei allen Auseinandersetzungen und Kontroversen nicht vergessen darf, dass es sich um Ertrinkende handelt und sich keiner, aber wirklich keiner, anmaßen darf zu sagen: Der muss ertrinken und der nicht. Wenn man Carola Rackete kriminalisiert, spricht das gegen unsere Gesellschaft. Aber es sind ja auch viele Menschen da, die das anders sehen. Für mich ist Frau Rackete eine "humanitäre Rakete". Wir brauchen mehr Personen wie sie. Sie ist bescheiden und sie ist professionell.
Man darf sich von diesen Meckerern nicht verrückt machen lassen. Man muss bei dem bleiben, was man tun will und muss. Natürlich sind die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen - und Deutschland ist da an erster Stelle zu nennen - eine Mutprobe und eine Herausforderung. Aber man muss das annehmen. Ob alle Flüchtlinge hierbleiben können, ist eine andere Frage. Aber man muss sie retten. Man darf sie nicht ertrinken lassen.
DOMRADIO.DE: Zuletzt hat Kanzlerin Merkel eine Wiederaufnahme der staatlichen Seenotrettung angeregt. Sehen Sie das als ein Zeichen der Hoffnung?
Neudeck: Ja, ich sehe Frau Merkel überhaupt als Zeichen der Hoffnung. Als sie 2015 die in größter Not leidenden Flüchtlinge in das Land gelassen hat - man vergisst ja, welches Drama dem vorausging - da waren wir ganz schön stolz. Dass ausgerechnet Deutschland die Welt erstaunte, dass so etwas möglich ist. In vielen Ländern werden wir ja immer noch als Hitlerdeutschland gesehen. Aber ich bin skeptisch, ob sich Frau Merkel da durchsetzen kann.
DOMRADIO.DE: Was wollen Sie der Politik sagen?
Neudeck: Das ist relativ einfach. Ich hatte in den letzten drei Jahren sehr viel mit Flüchtlingen zu tun. Es gab einen Kabarettisten, der sagte: Die Deutschen hätten gar keine Mauer zwischen Ost und West bauen müssen, es hätte gar nicht so teuer werden müssen. Sie hätten nur eine rote Ampel aufstellen müssen, da wäre niemand mehr über die Grenze gegangen. Und diese roten Ampeln sehe ich in der Bürokratie überall. Darüber könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Da möchte ich wirklich die Kreativität einfordern, dass man in der Verwaltung - wo sehr viele engagierte Leute sind - diese roten Ampeln auf Grün stellt und sagt: Ich handle vernünftig.
Der Flüchtling, der bei mir zwei Jahre gelebt hat und zu dem ich engen Kontakt habe, ist jetzt im dritten Lehrjahr als Elektroniker. Wir brauchen Elektroniker. Das Asylverfahren ist wahnsinnig teuer, langwierig und kostet den Staat viel Geld. Man könnte doch jetzt sagen: Okay, du sprichst fließend Deutsch und hältst dich an das Grundgesetz. Du erlernst einen Beruf, den wir brauchen. Wir stellen das Verfahren zunächst ein und nach drei Jahren prüfen wir, ob Du wirklich Deutscher sein werden darfst und ob du dich weiterhin so verhältst. Das aber geschieht nicht.
DOMRADIO.DE: Auch heute kämpfen viele für mehr Menschlichkeit und riskieren dafür auch einiges. Sie haben gerade schon Carola Rackete, die Kapitänin der Sea-Watch, erwähnt. Haben Sie aus Ihrer Erfahrung von damals heraus eine Botschaft an diese Helfer?
Neudeck: An diese Helfer habe ich die Botschaft, dass sie keine Angst haben sollen. Man versucht ja in allen möglichen Bereichen, anderen Angst zu machen. Ständig bekommen wir gesagt, woran wir sterben können, sind aber noch nie so alt geworden wie heute. Irgendwie geht das ja nicht so ganz auf. Den Helfern würde ich sagen: Man soll mit denen, die in Not sind, zusammen leben und sich nicht verrückt machen lassen von all denen, die nichts tun und nur stöhnen. Das ist meine Erfahrung. Wenn ich früher darauf angesprochen wurde, dass man zunächst zu Hause viel tun muss und nicht außerhalb und ich dann zurück gefragt habe, was sie denn tun, dann kam nichts. Meckern tun in der Regel die, die nichts tun. Davon soll man sich nicht irritieren lassen.
Das Interview führte Hilde Regeniter