Die syrisch-türkische Grenze brennt. Zwischen Euphrat und Tigris steigen schwarze Rauchschwaden in den Himmel, Explosionen erschüttern die Orte, mühsam nach dem Krieg gegen den "Islamischen Staat im Irak und in der Levante" (2014/2015) wieder aufgebaute Häuser stürzen ein, von Kämpfen und heftigen Winden aufgewirbelter Sand trübt die Augen und die Linsen der Kameras.
"Was will Erdogan von uns?"
Autokolonnen verlassen die Städte Ain al Arab/Kobane, Tall Abyad, Ras al Ain, Qamischli gen Süden und suchen Zuflucht in Hasakeh und in den Wüstengebieten entlang des Euphrat-Tals. "Was will Erdogan von uns?", fragt ein alter Mann in eine Kamera der russischen Nachrichtenagentur Ruptly. "Sehen Sie sich um; hier sind keine Kämpfer. Hier sind nur alte Leute, Frauen und Kinder!"
Der Kampf ist ungleich. Die Bevölkerung im Norden Syriens besteht größtenteils aus einfachen unbewaffneten Leuten - Bauern, Beduinen, Fahrern, wenigen Beamten, die in Schulen, Krankenhäusern und Verwaltungen arbeiten. Etwa 1,5 Millionen Menschen lebten vor dem Krieg in dem Gebiet zwischen Euphrat und Tigris, das in Syrien auch "Jaziera" genannt wird, die Insel. Hinzu kommen heute rund 130.000 Inlandsvertriebene, die in verschiedenen Lagern leben.
Die Entstehung einer nahezu autonomen kurdischen Verwaltung unter dem Schutz der USA im Gebiet nordöstlich des Euphrat hat die Türkei so sehr aufgebracht, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits zweimal militärisch gegen die syrischen Kurden vorgegangen ist. Sowohl in Afrin 2018 als auch bei Jarabulus 2016/17 gingen die syrischen Kurden als Verlierer aus der Konfrontation hervor.
Syrische Truppen sollen türkische Armee zurückdrängen
Die erneute Konfrontation zwischen Euphrat und Tigris hatte sich angekündigt. Seit Monaten marschierten türkische Truppen entlang der Grenze auf. Nachdem US-Präsident Donald Trump den Rückzug der US-Soldaten anordnete, war der Weg frei für die türkische Invasion.
Unter russischer Vermittlung hat sich die kurdische Militärführung mit der syrischen Armee auf eine Kooperation geeinigt. Syrische Truppen sollen entlang der Grenze zur Türkei stationiert werden und die türkische Armee zurückdrängen.
Die Jaziera ist historisch und traditionell von vielen verschiedenen Volks- und Religionsgruppen besiedelt. Im 19. Jahrhundert siedelten Tscherkessen dort, die vor einem Krieg im Zarenreich geflohen waren. Vor und während des Ersten Weltkriegs fanden Armenier in der Jaziera Zuflucht vor den türkischen Massakern. In den 1930er Jahren flohen Kurden vor Verfolgungen in der Türkei zu ihren Verwandten in die Jaziera. Es folgten irakische Kurden und - auf der Flucht vor der Terrormiliz «Islamischer Staat» - zuletzt Jesiden aus dem Nordirak und Beduinen aus Deir Ez Zor.
Volksgruppen und Religionen wurden instrumentalisiert
Die Toleranz, mit der die Syrer der Jaziera die vielen Flüchtenden aufnahmen, ist nicht zuletzt auf die Präsenz der syrischen Ostkirchen in der Region zurückzuführen. Die Christen in Hasakeh gehören zu den ältesten Gemeinden. Wie überall im einst als "Fruchtbarer Halbmond" bekannten Land zwischen Euphrat und Tigris half ihre Präsenz dabei, die verschiedenen Kulturen und Traditionen miteinander zu verbinden.
Doch mit den politischen Begehrlichkeiten der Briten und Franzosen, die das Gebiet im Sykes-Picot-Abkommen (1916) unter sich aufteilten und mit dem Versuch der französischen Mandatsmacht, Syrien in religiöse und ethnische Kleinstaaten zu spalten, wurden Volksgruppen und Religionen von regionalen und internationalen Mächten für eigene Interessen benutzt.
Wie nie zuvor geschah das im syrischen Krieg, der nun schon achteinhalb Jahre andauert. Die syrischen Kurden wurden von der US-geführten internationalen Anti-IS-Allianz als "Partner" im Anti-Terrorkampf quasi als "Bodentruppe" eingesetzt. Assyrische Christen werden aus den USA bewaffnet und aufgerufen, das Zentrum ihres ehemaligen Königreichs Assyrien zu befreien.
Viele Christen haben das Gebiet verlassen
Die Türkei wiederum kooperiert mit islamistischen Kampfverbänden, die Hochzeiten verbieten, weil Männer und Frauen gleichzeitig daran teilnehmen; die Frauen ermorden, weil sie arbeiten gehen; die im ganzen Land Kirchen gebrandschatzt haben. Diese Truppen wollen nun die Jaziera besetzen. Sie wollen das islamische Recht, die Scharia, durchsetzen, nicht das Völkerrecht.
Viele Christen haben schon in den vergangenen Jahren die Jaziera verlassen - aus Angst vor dem IS, vor der Unsicherheit unter den kurdischen Nationalisten und vor der Aussicht, unter Fremdherrschaft leben zu müssen. Doch nicht alle wollen ihre Heimat aufgeben. In Qamischli und Hasakeh versammelten sich am Freitag die religiösen Führer aller Kirchen mit den muslimischen Scheichs und Stammesvertretern, um gemeinsam eine Ende der türkischen Offensive zu fordern. Vergeblich.
Von Karin Leukefeld