Bischof Heiner Wilmer warnt vor einer massiven humanitären Krise sowie einer drohenden "ethnischen Säuberung", sollten die angegriffenen Kurden aus den betroffenen Gebieten vertrieben werden. Etwa 100.000 Menschen seien bereits auf der Flucht und es würden gewiss mehr werden.
Wilmer: Türkei betreibt Politik gegen kurdische Bevölkerung
Auch wenn die Türkei sich auf eine vermutete terroristische Bedrohung durch kurdische Kräfte beziehe und angebe, eine "Sicherheitszone" einrichten zu wollen, könne dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land "eine systematische Politik gegen die kurdische Bevölkerung betreibt", so der Hildesheimer Bischof weiter. Die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht nannte er "fadenscheinig". Sie halte einer näheren Betrachtung nicht stand.
"Diese gravierende Verletzung des Völkerrechts ist kein Kavaliersdelikt, sondern untergräbt die Fundamente der internationalen Rechtsordnung und damit die Menschenrechte selbst", kritisiert Wilmer. Die Türkei trage damit zur Verschärfung der Situation bei. Die Bundesregierung müsse mit anderen Nato-Partnern entschieden auf das Mitglied Türkei einwirken, auch mit Sanktionen.
Wilmer war in der vergangenen Woche zum neuen Vorsitzenden von Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden) gewählt worden. Die Kommission ist eine Einrichtung der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zur Förderung von Entwicklung, Menschenrechten und Frieden.
Erzbischof em. Hino: Christen ohne kurdischen Schutz
Auch Jacques Behnan Hindo, der emeritierte syrisch-katholische Erzbischof von Hassaké-Nisibi, macht sich im Gespräch mit dem weltweiten katholischen Hilfswerk "Kirche in Not" keine Hoffnung, was die jüngste Invasion der Türkei im Nordosten Syriens angeht. "Es war nicht klug, den Truppenabzug einzuleiten. Es war klar, dass den Kurden niemand helfen würde. Jetzt werden sie alles verlieren, wie es bereits in Afrin geschehen ist. Wie immer hat jede Kriegspartei ihre eigenen Interessen, aber wir Christen werden die Konsequenzen tragen“, so Hindo.
Im Nordosten Syriens leben rund 30.000 bis 40.000 Christen verschiedener Konfessionen. Trotz Einschränkungen waren sie unter dem Schutz kurdischer Truppen relativ sicher in der Region, die sich zwischen dem Euphrat und der Grenze zur Türkei und der irakisch-türkischen Grenze erstreckt. Die Kurden waren nicht zuletzt wichtige Partner im Kampf gegen den Terror des sogenannten "Islamischen Staates".
Nun, da die Kurden um ihr eigenes Überleben kämpfen, stünden die Christen wie die anderen Minderheiten, zum Beispiel die Jesiden, ohne Schutz da. Ein neuer Exodus sei vorprogrammiert, so Bischof Hindo. Hinzu komme jedoch noch eine weitere gefährliche Entwicklung. "Es wurde gemeldet, dass eines der Gefängnisse, in dem IS-Kämpfer festgehalten wurden, im Kampf getroffen wurde und weitgehend unbewacht ist. Die meisten von den Terroristen werden jetzt frei sein. Das folgt einem Plan, Syrien zu zerstören – und nicht nur Syrien. Jetzt werden die Terroristen nach Europa kommen, durch die Türkei und mit der Unterstützung Saudi-Arabiens."
Neue Flüchtlingswelle – vor allem in den Irak
Eine neue Flüchtlingswelle, die vor allem den Irak mit voller Härte trifft, befürchtet auch der chaldäisch-katholische Erzbischof von Erbil, der Hauptstadt der Region Kurdistan, Bashar Warda. "Wir bereiten uns auf eine neue Flüchtlingswelle vor. In Erbil haben wir in den vergangenen beiden Jahren schon eine steigende Zahl von Vertriebenen aus Nordsyrien festgestellt", schreibt Warda in einer Erklärung, die dem Hilfswerk "Kirche in Not" vorliegt. "Wir hoffen und beten, dass sich die Regierung und die internationale Gemeinschaft sich nicht abwenden, sondern uns unterstützen, den Christen und den anderen unschuldigen Menschen zu beizustehen, welche Religion sie auch haben.“
Erschwerend komme hinzu, dass für viele Flüchtlinge nur der Irak die nächstgelegene Zufluchtsoption darstellt. Der Libanon, der seit Ausbruch des Syrienkriegs die höchste Zahl von Flüchtlingen aus Syrien aufgenommen hat, beginne nun Berichten zufolge mit einem verstärkten Rückführungskurs. Warda befürchtet deshalb: "Sollten Christen keine ausreichende Versorgung im Nordirak finden, werden sie den Nahen Osten ganz verlassen." Einmal mehr sei die Gefahr der Auslöschung des Christentums in einer seiner Ursprungsregionen zum Greifen nah. Letztlich könnte die erneute Eskalation sogar einem der Hauptziele des IS doch noch zum Erfolg verhelfen, macht Warda deutlich: „Der Ausrottung des Christentums in der Region.“
Greift der Konflikt auch auf Aleppo über?
Offen bleibt, ob der Plan der Türkei, eine Sicherheitszone im Nordosten Syriens einzurichten, auf die Region begrenzt bleibt. Sollte der Konflikt auch auf den Nordwesten überschwappen, wäre unter anderem Aleppo betroffen, wo derzeit rund 30.000 Christen leben. "Das könnte der Anfang vom Ende sein", erklärt der in Aleppo ansässige armenisch-katholische Priester Mesrob Lahian gegenüber "Kirche in Not".
"Die politischen Interessen sind, wie seit Beginn des Syrienkrieges, unübersichtlich. Eins aber ist Fakt: Die Menschen leiden unsäglich, manchmal noch mehr als zu Beginn des Krieges“, erklärt Florian Ripka, der Geschäftsführer von "Kirche in Not" Deutschland. "Unser Hilfswerk hat in den vergangenen acht Kriegsjahren immer an der Seite der syrischen Christen gestanden. Wir werden sie auch jetzt nicht verlassen, während die Politik noch diskutiert, was jetzt zu tun ist."
Nicht vergessen werden dürfe, dass die Kirchen oft die einzigen Anlaufstellen für die kriegsgeplagte Bevölkerung sind. Lebensmittel- und Medikamentenhilfen, Beiträge für Lebenshaltungskosten und Unterbringung von Flüchtlingen komme nicht exklusiv den Christen zugute, so Ripka. "Nächstenliebe fragt nicht nach dem Taufschein. Sie fragt nach der konkreten Not. Und die ist jetzt nochmals unermesslich gestiegen."