Der Leiter des Lateinischen Patriarchats in Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa, beobachtet einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel im Heiligen Land. "Vor 30 Jahren hat man noch daran geglaubt, dass man sich auf ein Abkommen einigt, mehr noch, auf eine stabile Lösung. Und jetzt? Jetzt ist es schwierig, jemanden zu finden, der noch ernsthaft an eine Lösung glaubt", sagte das Oberhaupt der Katholiken in Israel und den Palästinensergebieten im Interview der in Freiburg ansässigen Kinderhilfe Bethlehem (Mittwoch).
"Als ich ankam, tobte die erste Intifada. Dann kam Oslo, die Euphorie über das Oslo-Abkommen, die Frustration über das Oslo-Abkommen, die zweite Intifada und alles was danach kam", so der 54-jährige Italiener. Infrastruktur, Politik, Soziales und Religion hätten sich gewandelt; die Gesellschaft sei heute eine andere. "Vor 30 Jahren spielte die Religion eine Rolle, aber sie hat nicht alles bestimmt. Heute bestimmt die religiöse Einstellung auch die politische Sicht auf die Dinge."
Menschen wünschen sich Normalität
Zur Lage im Westjordanland sagte er, die Menschen wollten ein Land mit normal funktionierenden Institutionen, ein normales Leben und Bürgerrechte. "Sie haben es satt darauf zu warten, ob es irgendwann irgendeine Lösung gibt." Die Situation im Gazastreifen nannte der Erzbischof "beschämend, wirklich, eine Schande". Die Menschen hätten kaum Arbeitsmöglichkeiten, selten Strom und seien eingeschlossen.
Auch für die Christen im besetzten palästinensischen Gebiet gebe es gerade große Veränderungen. Christliche Familien zögen aus ökonomischen Gründen oder für die Ausbildung ihrer Kinder vom Land in Städte wie Bethlehem und Ramallah. "Das bedeutet, dass sich das christliche Leben mit den Jahren nur noch auf die Städte konzentrieren wird. Leider."
Christen "waren eine Elite"
Im besetzten Gebiet sei das Leben aus ökonomischen wie auch religiösen Gründen schwierig. "Wobei ich da gerne etwas bremse: Minderheiten steigern sich oft in ihre Probleme hinein, das ist eine Art Minderheiten-Komplex", so der Erzbischof. "Wenn es Probleme gibt, führen sie es reflexartig auf ihr Christsein zurück. Aber gewisse Probleme haben alle, unabhängig ihrer Zugehörigkeit." In der Vergangenheit hätten die Christen in Politik und Gesellschaft eine zentralere Rolle gespielt, "waren eine Elite". Heute habe sich für die Christen alles verändert.
Immerhin sei das Caritas Baby Hospital in Bethlehem "eine der bedeutendsten christlichen Einrichtungen" dort. Es sei nicht nur medizinisch auf Kinderheilkunde spezialisiert, sondern auch einer der größten Arbeitgeber der Region. Vor allem aber herrsche in der sehr offenen und modernen Einrichtung "eine ganz besondere Atmosphäre", so der Erzbischof. "Das ist in diesem traditionell geprägten Kontext hier sehr wichtig." Die Kinderhilfe Bethlehem betreibt das Krankenhaus mit Hilfe von Spenden. Demnach wurden 2018 rund 53.000 Kinder und Babys stationär oder ambulant versorgt.
Dass alle Kinder ungeachtet ihrer ökonomischen, sozialen oder religiösen Herkunft gleichbehandelt werden, sei besonders wichtig, "weil das Trennende immer hervorgehoben" werde in der Region, sagte Pizzaballa. "Dieses Denken schafft Mauern in den Köpfen." Im Caritas Baby Hospital hingegen seien alle willkommen. "Das macht diese Einrichtung so besonders."