KNA: Frau Oberlinger, in Kürze erhalten Sie den seit 1987 vergebenen Magdeburger Telemann-Preis - als erste Frau. Warum wohl wurden bislang nur Männer geehrt?
Dorothee Oberlinger (Festivalleiterin, Hochschuldozentin, Dirigentin, Blockflötistin): Der Preis würdigt hervorragende Leistungen im Hinblick auf Interpretation, Pflege und Erforschung von Telemanns Leben und Werk. Vielleicht gibt es in diesem Bereich einfach noch nicht so viele Interpretinnen und Dirigentinnen, Ensembleleiterinnen oder Verlegerinnen. Aber ganz genau weiß ich auch nicht, warum bisher noch keine Frau zum Zuge gekommen ist.
Ich freue mich jedenfalls über die Auszeichnung, sie ist eine Ehre und Verpflichtung für mich. Das ist ja schon ein sehr illustrer Kreis mit weltbekannten Musikern wie Nikolaus Harnoncourt oder dem belgischen Dirigenten und Countertenor Rene Jacobs.
KNA: Sie waren bereits Botschafterin im Telemann-Jahr 2017 - warum sollte man ihn heute hören?
Oberlinger: Seit dem 19. Jahrhundert ging das Interesse an Telemann kontinuierlich zurück. Das finde ich sehr schade. Denn Telemanns Musik ist unglaublich vielseitig. Sie finden darin zum Beispiel Einflüsse aus Frankreich, Italien und Osteuropa, virtuose Elemente und Versatzstücke aus der volkstümlichen Musik. Die späten Werke wie das Oratorium "Der Tod Jesu" verweisen bereits auf die frühe Klassik.
Bei alledem wollte er stets das breite Publikum erreichen - und nicht irgendwelche exklusiven Zirkel. Ein für seine Zeit sehr moderner Ansatz.
KNA: Verfolgte Telemanns Zeitgenosse Johann Sebastian Bach nicht ähnliche Ziele?
Oberlinger: Bach versuchte, das Göttliche in Musik zu fassen, arbeitete mit Zahlensymbolik, der Kunst des Kontrapunkts und ähnlichen Dingen - nur ein Kenner kann seine Kompositionen wirklich durchdringen und "enträtseln". Natürlich erreicht seine Musik trotzdem unser Herz, ohne dass man alle Ebenen verstehen muss.
KNA: In diesem Jahr feiern wir den 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven, im Sommer steht die 100. Auflage der Salzburger Festspiele an. Schaffen solche runden Jubiläen längerfristig mehr Aufmerksamkeit für die klassische Musik - oder ist das ein reiner Medienhype?
Oberlinger: Ein Komponist oder ein Festival kann natürlich nicht ständig eine vergleichbare Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie bei einem runden Jubiläum. Ein Jahr später steht ja dann wieder jemand anderes im Fokus.
KNA: Aber?
Oberlinger: Trotzdem bleibt vielleicht etwas hängen. Und es ist schön, wenn man der Öffentlichkeit bei dieser Gelegenheit beispielsweise das Werk eines Komponisten etwas näher bringen kann.
KNA: Telemann war nicht nur Komponist, sondern auch Musikmanager und PR-Mann in eigener Sache. Wenn Sie auf die Klassikbranche heute schauen: Läuft's rund - oder bräuchten wir mehr Telemänner?
Oberlinger: Es bräuchte immer mehr Telemänner! Aber es ist heutzutage sehr schwer, ein Telemann zu sein.
KNA: Warum?
Oberlinger: Telemann war Autodidakt und ein lebenslang wissbegieriger, eifriger und neugieriger "homo universale", ein vielseitig gebildeter Mann, der mehrere Sprachen sprach, der nicht nur in enormem Umfang komponierte, sondern auch selber Sänger und Interpret auf verschiedenen Instrumenten war, der Verleger war und gerne unterhaltsam in Reimform schrieb.
Solch ein Pensum schaffen nur die wenigsten, und in der Ausbildung heute konzentriert man sich leider gewöhnlich eher auf eine einzige Disziplin. Das ist schade, denn die Künste können voneinander so viel lernen.
KNA: Sie selbst sind ebenfalls in verschiedenen Disziplinen unterwegs, führen Musik auf, sind Professorin, Intendantin und dirigieren neuerdings.
Oberlinger: Das stimmt. Ich bin zwar anders als Telemann "nur" eine nachschaffende Interpretin und keine Komponistin, versuche aber, im Telemannschen Sinne Musik oder besser gesagt Kunst interdisziplinär zu denken. Das Gesamtkunstwerk Oper gehört da definitiv dazu. Zur Wiedereröffnung des Schlosstheaters im Rahmen der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci werde ich in diesem Jahr Telemanns erste Oper dirigieren, darauf freue ich mich!
KNA: Aktuell steht die Welt kopf wegen des Coronavirus - was bedeutet das für die Musikbranche, für Konzerte und Festivals?
Oberlinger: Die Auswirkungen werden immer dramatischer. Wenn Musiker nicht mehr in andere Länder reisen dürfen und Aufführungen abgesagt werden, kann das zu massiven finanziellen Einbußen führen. Das bekomme auch ich als Ensembleleiterin und Solistin bereits zu spüren.
Und bei einzelnen Festivals stellt sich möglicherweise die Frage, ob sie nach einer Absage noch weiter bestehen können. Derzeit planen wir nur von Tag zu Tag - mehr ist gerade nicht möglich.
Das Interview führte Joachim Heinz.