Ethikrat gibt Empfehlungen zur Bewältigung der Corona-Krise

"Vermeidung von Triage-Situationen"

Die Freiheitsbeschränkungen beim Kampf gegen die Corona-Pandemie müssen ständig auf die Folgelasten geprüft und möglichst bald gelockert werden, fordert der Deutsche Ethikrat. Und er betont den Primat der Politik.

Autor/in:
Christoph Scholz
Ausgangssperren in Deutschland / © Christian Charisius (dpa)
Ausgangssperren in Deutschland / © Christian Charisius ( dpa )

Die Bewältigung der Corona-Krise stellt die gesamte Gesellschaft, besonders aber Politiker und Mediziner, vor völlig neue Entscheidungen. Ärzte müssen möglicherweise über Leben und Tod von Patienten befinden und Parlamentarier darüber, welche Lasten für Staat und Gesellschaft noch tragfähig sind. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bat deshalb den Deutschen Ethikrat um Wegweisung. Am Freitag legte das Gremium in Berlin "Ad-hoc-Empfehlungen" zur "Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise" vor.

Die Freiheitsbeschränkungen sieht der Ethikrat in Abwägung mit anderen Vorgehensweisen als ethisch vertretbar an. Ebenso die "erheblich belastenden Begleitschäden". Er betont aber die absolute Ausnahmesituation. Die Politik sollte deshalb ständig die Folgelasten prüfen und die Einschränkungen möglichst bald lockern. Mit seinen Empfehlungen will das Gremium "Kriterien und Verhaltensmaßgaben skizzieren", wie und wann zu einer Normalisierung zurückgekehrt werden kann.

"Triage-Situationen" vermeiden

Gleich zu Beginn hebt das Papier den Vorrang der Politik hervor: "Wissenschaftliche Beratung der Politik ist wichtig, sie kann und darf diese aber nicht ersetzen". Und pointiert lautet der letzte Satz der 16-seitigen Expertise: "Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legimitierten Politik." Einer Herrschaft der Wissenschaftler erteilen die Ratsmitglieder also eine Absage.

Den ethischen Kernkonflikt sieht die Studie darin, dass ein leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden muss und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering zu halten sind. Der Orientierungspunkt für die kommende Zeit bei der Behandlung von Corona-Patienten sollte dabei in der Vermeidung von "Triage-Situationen" liegen. Dabei muss der Arzt wegen fehlender intensivmedizinischer Ressourcen darüber entscheiden, wen er noch behandelt und wen er möglicherweise sterben lässt.

Triage

Der Begriff "Triage" bezeichnet in der Medizin eine Methode, um im Fall einer Katastrophe oder eines Notfalls die Patienten auszuwählen, die zuerst eine medizinische Versorgung erhalten. Das Wort stammt aus dem Französischen und bedeutet übersetzt "sortieren" oder "aussuchen". Der Begriff stammt aus der Militärmedizin, wo es um die Versorgung der Verletzten auf dem Schlachtfeld geht. Inzwischen wird er auch in der Notfallmedizin oder dem Zivilschutz etwa bei Katastrophen, Terroranschlägen oder Pandemien verwandt. Dazu wurden strukturierte Triage-Instrumente entwickelt.

Triage für Coronavirus-Notfälle in Bergamo / © Claudio Furlan (dpa)
Triage für Coronavirus-Notfälle in Bergamo / © Claudio Furlan ( dpa )

Transparente und möglichst einheitliche Kriterien

Wie drängend diese Frage ist, zeigt die Lage im Elsass. Dort werden nach jüngsten Berichten Patienten über 80 Jahre nicht länger beatmet, sondern erhalten "Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln". Für den Ethikrat ist dies nicht zu rechtfertigen: Eine Auswahl nach sozialem Status, Herkunft, Alter oder Behinderung müsse ausgeschlossen werden, heißt es. Notwendig seien stattdessen transparente und möglichst einheitliche Kriterien, wie sie bereits einige medizinische Fachgesellschaften aufgestellt hätten. Dabei ist etwa die Überlebenschance ein wesentliches Kriterium.

Der Staat selbst darf nach Auffassung des Rates "menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist". Denn er muss auch und gerade in Katastrophensituationen die Rechtsordnung garantieren.

Zur Dauer des Lockdowns

Bei der brennenden Frage, wie lange ein Lockdown der gesamten Gesellschaft zu rechtfertigen ist, verweist die Expertise auf eine "komplexe Güterabwägung". Grundsätzlich stellt sie aber fest: "Auch der gebotene Schutz menschlichen Lebens gilt nicht absolut. Ihm dürfen nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- beziehungsweise untergeordnet werden. Ein allgemeines Lebensrisiko ist von jedem zu akzeptieren."

Bei der Güterabwägung macht das Rat geltend, dass eine funktionierende Marktwirtschaft gebraucht werde und der Sozialstaat auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit angewiesen sei. "Systemgefährdungen durch die Beschränkungen" sieht er auf Dauer in nahezu allen gesellschaftlichen Teilsystemen: von der Wissenschaft, über die Kultur bis zum Sport. Ferner erinnert er an die sozialpsychologischen Folgen, von der Vereinsamung und häuslichen Gewalt bis zur Einschränkung anderweitiger medizinischer Versorgung.

Mit seiner Expertise gibt er Ethikrat also keine Antworten, sondern skizziert Güterabwägungen und gibt ethische Rahmenbedingungen vor, zuvorderst die Menschenwürdegarantie der Verfassung. Für die langfristigen Antworten fordert er hingegen eine "ernsthafte gesellschaftliche Debatte", bei der auch zu erörtern sein werde, "welche Lebensrisiken eine Gesellschaft als akzeptabel einzustufen gewillt ist, und welche nicht".

Quelle:
KNA