Caritas International zur Lage in Syrien in der Corona-Krise

Ein Nährboden für das Virus?

Die Welt steckt tief in der Corona-Krise. Doch Länder wie Syrien könnten bald besonders hart getroffen werden. Denn für die Virus-Verbreitung gibt es keine besseren Bedingungen als Krieg und Vertreibung, sagt Oliver Müller von Caritas International.

Mitglieder des syrischen Zivilschutzes kämpfen gegen die Coronavirus-Pandemie / © Anas Alkharboutli (dpa)
Mitglieder des syrischen Zivilschutzes kämpfen gegen die Coronavirus-Pandemie / © Anas Alkharboutli ( dpa )

DOMRADIO.DE: Man hört gerade wenig über Syrien, was sicher auch mit der Berichterstattung zu tun hat, die sich nur mit Corona hierzulande zu beschäftigen scheint. Wie ist denn die Lage dort in Bezug auf das Virus?

Dr. Oliver Müller (Leiter von Caritas international): Von den Fällen her geht das bislang noch. Es gibt nach heutigem Stand neun identifizierte Corona-Fälle. Das ist eigentlich nicht viel. Aber man muss sich die Umstände anschauen: Es gibt in dem Land nur in der Hauptstadt Damaskus Testmöglichkeiten. Das heißt, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich viel höher. Auch die generellen Lebensbedingungen sind so desaströs, dass von einer Ausweitung des Coronavirus auf jeden Fall auszugehen ist. Durch den Krieg wurde ungefähr die Hälfte des Gesundheitssystems beschädigt oder zerstört. Das heißt, es fehlt an Krankenhäusern - die Bilder kennen wir alle aus dem Fernsehen - und das wird sich in so einer Situation bitter rächen.

DOMRADIO.DE: Genau das wäre jetzt die nächste Frage gewesen. Gäbe es überhaupt die medizinische Infrastruktur, um auf Erkrankungen zu reagieren, wenn die Zahlen jetzt steigen?

Müller: Es gibt verschiedene Probleme, mit denen das Land jetzt zu kämpfen hat. Zum einen gibt es in Syrien über sechs Millionen Binnenvertriebene. Das sind Menschen, die sind nicht an dem Ort, an dem sie ursprünglich gelebt haben, und die sind zum Teil unter extrem prekären Verhältnissen untergebracht - fast kein Strom, kein Wasser, 50 Personen müssen sich einen Wasserhahn teilen. Da kann man nicht von Hygienemaßnahmen sprechen.

Die andere Problematik ist, dass es viel zu wenige Gesundheitseinrichtungen gibt und die auch noch sehr schlecht ausgestattet sind. Das ist etwas, was wir schon lange beobachten. Das ist wirklich ein Desaster. Und schließlich gibt es natürlich noch den Krieg in der Region Idlib, wo allein in den letzten Wochen und Monaten über 350.000 Menschen neu in die Flucht getrieben wurden. Dort haben Hilfsorganisationen fast keinen Zugang. Da kann man nur mutmaßen, was das für die Ausbreitung des Virus bedeutet.

DOMRADIO.DE: Bleiben wir mal weiter bei dem Thema mit dem Krieg. Was macht Machthaber Assad im Windschatten der Corona-Krise, während alle anderen Länder mit sich selbst beschäftigt sind?

Müller: Zum einen hat die syrische Regierung verschiedene Maßnahmen getroffen. Es gibt ein Ausgangsverbot von abends 18 Uhr bis morgens sechs Uhr. Es sind Märkte geschlossen worden. Das Leben der Bürgerinnen und Bürger in Syrien ist schon sehr eingeschränkt.

Aber es gibt natürlich bedeutende wirtschaftliche Probleme. Schon jetzt merkt man, dass die Inflation zugenommen hat, das heißt, die Preise steigen. Und die Menschen in Syrien haben wenige Ressourcen, sie haben praktisch nichts Erspartes mehr. Es ist nicht zu erkennen, dass die Regierung dem jetzt wirklich entgegensteuert. So wird sich die ohnehin sehr heikle Lebenssituation vieler Menschen noch weiter verschlechtern.

DOMRADIO.DE: Sie schließen sich der Forderung von UN-Generalsekretär António Guterres an, der zur Beendigung aller weltweiten Kampfhandlungen aufgerufen hat. Haben Sie den Eindruck, der wird gehört?

Müller: Ich hoffe es. Man muss natürlich sagen, dass es keine bessere Bedingungen für die Verbreitung des Virus gibt als Krieg und Vertreibung, weil es keinerlei Gesundheitsversorgung gibt, weil Menschen auf der Flucht sind, weil es zu unkontrollierten Bewegungen kommt und weil Menschen, die mit dem unmittelbaren Überleben befasst sind, überhaupt nicht in der Lage sind, sich jetzt vor dem Virus zu schützen. So gesehen ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Und es wäre jetzt wichtig, nicht nur wegen des Coronavirus, dass Hilfsorganisationen endlich Zugang auch zu den Notleidenden in der Region Idlib bekommen, die mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe massiv unterversorgt sind.

DOMRADIO.DE: Wie versucht Caritas International denn, die Menschen in der Region gerade zu unterstützen?

Müller: Wir versuchen zum einen, die Projekte, die wir aufgebaut haben, die wir permanent fördern, fortzuführen. Das ist gar nicht so leicht, weil zum Beispiel in Aleppo Sozialzentren auf Ordnung der Regierung geschlossen wurden. Die Caritas in Syrien steht aber mit vielen Bedürftigen in Kontakt. Ich denke da an alleinstehende, ältere Menschen, die im vierten Stock eines Gebäudes wohnen, das sie alleine gar nicht verlassen können, und die darauf angewiesen sind, dass ihnen jemand etwas zu essen bringt. Diese Menschen müssen versorgt werden und das muss aufrechterhalten werden. Da bin ich auch ganz optimistisch, dass uns das zu großen Teilen gelingt.

Dann müssen wir versuchen, dass es in den Einrichtungen, die noch arbeiten, nicht auch zu Ansteckungen kommt, dass wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen. Und schließlich wollen wir unseren Beitrag zur Prävention leisten. Das geschieht momentan mit Hochdruck in Syrien, aber auch in vielen anderen Ländern, in denen Caritas International tätig ist. Und das hat mit der Bereitstellung von Schutzkleidung zu tun, auch mit Aufklärung, vor allem aber mit der Versorgung derer, die besonders betroffen sind und Hilfe von außen benötigen.

Das Interview führte Michelle Olion.


Oliver Müller, Leiter von Caritas international / © Patrick Seeger (dpa)
Oliver Müller, Leiter von Caritas international / © Patrick Seeger ( dpa )
Quelle:
DR