DOMRADIO.DE: Pater Entrich, Sie leben in Ihrem Konvent mitten unter den Menschen in der Düsseldorfer Altstadt und sind mitverantwortlich für die Seelsorge an der Dominikanerkirche St. Andreas, in der – wie in allen anderen Kirchen auch – seit Ausbruch der Corona-Krise keine Gottesdienste stattfinden. Beten Sie dafür umso mehr?
Pater Dr. Manfred Entrich OP (Seelsorger an der Düsseldorfer Dominikanerkirche St. Andreas): Sagen wir, ich bete anders. Seit wir keine Messen mehr feiern können, kommt dem Gebet noch einmal eine andere Bedeutung zu. So beten wir zum Beispiel die gemeinsame Laudes nicht mehr – wie sonst üblich – laut miteinander, sondern verteilen uns schweigend auf die ganze Kirche, so dass jeder für sich ist. Der eine Mitbruder hat dann das Stundenbuch vor sich, der andere betet die Psalmen mit Hilfe einer App, und der nächste braucht weder noch. Jeder, wie er will. Und jeder lässt den anderen. Das ist sehr eindrucksvoll.
Verstärkt wird diese Erfahrung eines neuen Miteinanders noch durch das ausgesetzte Allerheiligste, das bei uns immer während der Öffnungszeiten der Kirche zur Anbetung auf dem Altar steht. Diese schweigende Präsenz hat etwas ganz besonders Berührendes. Manchmal kommen Leute von draußen dazu, die ebenfalls weit voneinander Platz nehmen und beten. Auch ich gehe jetzt viel häufiger in die Kirche. Denn ich spüre, dass ich diese Gegenwart Gottes in der Monstranz suche, sie mich in meinem Leben hält und ich trotz des großen Schweigens um mich herum und der überall lauernden Gefahr einer Ansteckung nicht orientierungslos bin. Ganz im Gegenteil. Hinzu kommt, dass sich alte Gebete wie der Rosenkranz wie von selbst bei mir wieder auf die Tagesordnung setzen. In diesen unsicheren Zeiten gibt mir das alles ein Gefühl von Schutz und Sicherheit.
DOMRADIO.DE: Wie wirkt sich die Pandemie denn konkret auf Ihren Alltag aus?
Entrich: In der Regel tobt hier inmitten der Altstadt der Bär. Aber als die Kontaktsperre begann, kam es mir vor, als befände ich mich von jetzt auf gleich in einem kontemplativen Frauenorden, abgeschieden in den Bergen. Eine derart große Stille kenne ich eigentlich nur von strengen Schweigeexerzitien. Von daher begreife ich diesen gegenwärtigen Ausnahmezustand auch als meine ganz persönliche geistliche Übung. Für manche Menschen ist das sicher eine sehr schwere Zeit, aber es ist auch eine geschenkte Zeit, in der ich merke, dass diese Ruhe geradezu eine therapeutische Qualität hat. Das war am Anfang sogar so intensiv, dass ich das Empfinden hatte, viele Gedanken, Worte und Erinnerungen lösen sich einfach auf.
Von daher betrachte ich dieses Schweigen auch als eine Form der Reinigung von viel Überflüssigem – übrigens auch von manch Unnützem in der Kirche. Loszulassen, sich zu trennen macht ruhig und führt einen mehr zu sich selbst. Wenn man so will, bin ich mit dieser Einkehr klarer und authentischer geworden. Denn Schweigen führt dazu, viel bewusster wahrzunehmen und sensibler zu werden. Konturen verschwimmen nun nicht mehr so schnell. Dabei teile ich das Bedürfnis eines meiner Mitbrüder, dem die Menschen fehlen. Nun müssen wir uns ihrer eben innerlich vergewissern. Die flüchtige Begegnung, das zu schnelle Wort verliert an Bedeutung. Trotzdem hat die Pandemie natürlich etwas Bedrohliches: konkret für unsere Gemeinschaft, aber auch für alle Ordensbrüder weltweit. Obwohl wir gerade vertraute Gewissheiten verlieren, leben wir hier – im Vergleich zu ihnen – doch noch immer erstaunlich unbesorgt.
DOMRADIO.DE: Scheitern nicht gerade auch viele daran, sich selbst nun aushalten zu müssen und damit regelrecht auf sich selbst zurückgeworfen zu sein?
Entrich: Es ist doch großartig, wenn ich mit einem Mal mein Leben nochmals als geschenkte Aufgabe wahrnehme. Leider gibt es viele Menschen, die sich davor scheuen, sich mit sich selbst zu konfrontieren. Dabei ist jetzt die Gelegenheit dazu. Wer sich nicht dem eigenen Selbst stellt, ist bei sich immer nur zu Besuch. Alle sonst üblichen Ablenkungsmanöver fallen da im Moment ja weg. Jetzt stehen diese Menschen mit einem Mal ganz alleine auf der Bühne ihres Lebens. Sie fühlen sich allein und einsam, weil vieles, was das Leben vorher reich und sinnvoll gemacht hat, nicht mehr zur Verfügung steht. Nochmals: Die Stille und auch die Kontaktsperre schärfen ein präziseres Hinhören auf die eine Stimme unter vielen. Für mich ist das Gott, der sich bei mir Gehör verschaffen will. So jedenfalls erlebe ich das. In der Tat liegt in dieser Krise und diesem momentanen Prozess der Reinigung die große Chance, sich einem anderen – seinem Wort – zu überlassen. Und da bin ich gefordert, mich zu positionieren.
Am Ende ist das nichts anderes als ein ganz typischer Exerzitiengedanke: Wie stelle ich mich meinem Leben? Von daher bin ich zutiefst davon überzeugt, dass sich nach dieser Krise viel verändern wird. Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Es kann doch nicht ohne Wirkung bleiben, dass wir wochenlang keine Messen mehr feiern und keine Kommunion empfangen. Ich bin mir sicher: Wir werden danach andere sein.
DOMRADIO.DE: Als Angehöriger eines Predigerordens stehen Sie im Verkündigungsdienst und sind ein Mann des Evangeliums, dessen Aufgabe es ist, mit anderen über Gott zu sprechen. Was fehlt, wenn das zurzeit nicht geht?
Entrich: Es entspricht der Grundberufung eines Dominikaners, den Glauben ins Wort zu bringen. Daher fehlt uns gerade etwas ganz Wesentliches. Damit wir aber unserem Auftrag dennoch nachkommen, stellen wir zurzeit jeden Morgen einen kurzen geistlichen Impuls auf unsere Homepage und senden ihn auch über die sozialen Netzwerke. Übrigens mit großer Resonanz. Besondere Zeiten erfordern eben auch besondere Zeichen. Außerdem lernt man darüber den einen oder anderen Mitbruder, dessen Predigt man ja sonst nicht unbedingt hört, noch einmal in seiner Spiritualität neu kennen. Manchmal ist eben weniger mehr. Und Verzicht bzw. Reduktion bringt Erstaunliches ans Licht. Es ist ja kein Geheimnis: Auch manches Sakrament, das durch zu häufigen Gebrauch verbraucht erscheint, erfrischt sich noch einmal durch eine selbst auferlegte Zurückhaltung.
DOMRADIO.DE: Sie sind es gewohnt, viel unterwegs zu sein, um Ihren Aufgaben und Pflichten außerhalb Ihres Konvents nachzukommen. Wie geht es Ihnen nun in der unfreiwilligen Klausur?
Entrich: Da wir sonst nicht in Klausur leben, ist das eine neue Erfahrung. Trotzdem fühle ich mich, auch wenn ich zur sogenannten Risikogruppe gehöre und zuhause bleiben muss, nicht eingesperrt. Eher habe ich jetzt die Gelegenheit, mich genauer umzusehen und – wie gesagt – meine Sinne zu schärfen. Dabei ist der Blick auf die vielen kleinen Dinge ein Gewinn. Auch die vielen kreativen Hilfsangebote machen Mut. Ernsthaft Sorgen mache ich mir, wenn ich höre, wie die großen Hilfswerke um ihre Einnahmen kämpfen, um ihre Aufgaben in der Welt zu erfüllen.
Ja, und dann kommuniziere ich nach wie vor viel: nun verstärkt über die sozialen Medien oder ich telefoniere und schreibe Briefe. Ich nutze alle verbliebenen Freiheiten, um Nähe jetzt anders herzustellen.
DOMRADIO.DE: Wie sieht im Moment das Leben in Ihrer Kommunität aus? Wie kommen Sie damit zurecht, dass Sie keine Besuche bekommen dürfen und auch kaum raus können?
Entrich: Das erleben wir alle ganz unterschiedlich. Dem einen fehlen die Menschen in der Kirche, dem anderen die guten Freunde zum Austausch. Ich selbst habe keine Angst vor einer Infektion, obwohl ich bei meinen Vorerkrankungen und auch aufgrund meines Alters gut auf mich achten sollte. Insgesamt sprechen wir sparsamer miteinander. Am Tisch sitzen wir weit auseinander und beachten auch sonst die Kontaktregeln. Es gilt bei allem die mitbrüderliche Fürsorge, die wir nun noch ernster als sonst nehmen.
Seelsorge findet in sehr reduzierter Form statt, wenn jemand akut um Hilfe bittet. In einem solchen Fall bieten wir – natürlich mit den gebotenen Schutzmaßnahmen – auch Beratungs- oder Beichtgespräche an. Denn das ist uns wichtig. Grundsätzlich aber fehlt natürlich der unmittelbare Kontakt zu den Menschen in unserer Andreas-Gemeinde. Trotzdem: Der spirituelle Grundwasserspiegel im Konvent stimmt. Wir gehen sehr achtsam miteinander um. Von daher fühle ich mich in unserer Gemeinschaft gerade sehr be- und geschützt.
DOMRADIO.DE: In den letzten Jahren haben Sie immer wieder Bücher über viele kleine Begegnungen mit Menschen an unkonventionellen Orten – wie zum Beispiel im Taxi – geschrieben. Ein neues Buch – wäre das eine Möglichkeit, diese schwierige Zeit daheim am Schreibtisch zu überbrücken?
Entrich: Wenn ich das, was mich bewegt, nicht ins Wort bringen würde, müsste ich ersticken. Auch der Schreibprozess ist für mich eine Form der Reinigung. Vielleicht habe ich das von meiner Mutter. Sie hat immer viel geschrieben, und durch ihre vielen Briefe habe ich gespürt, dass ich in ihrem Leben bin. Schreiben ist eine Art und Weise, das Gute aus dem Allgemeinen herauszufiltern. Gerade in der gegenwärtigen Situation bin ich mal wieder dabei, viele meiner Gedanken fließen zu lassen und schriftlich zu sortieren. Denkbar, dass daraus am Ende ein neues Buch entsteht.
DOMRADIO.DE: Was bewegt Sie zurzeit am meisten?
Entrich: Dass wir alle noch einmal neu miteinander zu leben lernen. Dazu gehört auch dieser Wunsch: Bleiben Sie gesund! Ein völlig ungewohntes Wort im täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen, das man auch mehrdimensional verstehen kann.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.