KNA: Frau Köhler, Sie haben im Herbst 2019 ihr Buch "Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben" veröffentlicht - eigentlich als Reaktion auf die Klimadebatte. Haben Sie geahnt, dass das Buch so aktuell werden könnte?
Harriet Köhler (Buchautorin): Natürlich nicht. Aber es ist schon ironisch: Das, was die Fridays for Future-Demonstrationen monatelang nicht hinbekommen haben, bewirkt jetzt so ein kleines Virus im Handumdrehen: Die Menschen bleiben zu Hause, es wird kaum noch geflogen.
Einerseits freue ich mich, dass der Himmel so klar ist und die Leute möglicherweise Geschmack am Daheimbleiben finden. Aber es wird wohl nicht dabei bleiben.
KNA: Warum haben Sie das Buch geschrieben?
Köhler: Ursprünglich war es mein Herzensanliegen, darauf hinzuweisen, dass man sein Leben auch ganz anders leben könnte. Reisen ist ja nur eine Ausprägung unseres Lebensstils, der sehr auf Konsum und Erlebnis ausgerichtet ist. Das Daheimbleiben kann eine Form der Selbstbeschränkung sein, die man auch auf andere Lebensbereiche anwenden kann.
KNA: Welche Tipps haben sie für Menschen, deren Urlaubspläne für diesen Sommer geplatzt sind?
Köhler: Zunächst sollte man nicht so sehr damit hadern, sondern es annehmen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Ich plädiere für einen Perspektivwechsel: Wenn man neugierig ist und wenn es einem gelingt, den Blick, den man als Reisender in der Ferne hat, auch auf seine nähere Umgebung anzuwenden und dort genauso offen und neugierig ist, dann kann das genauso spannend sein wie ein ganz exotisches Reiseziel.
KNA: In den zurückliegenden Monaten haben viele schon wegen Corona ihr Freizeitverhalten geändert und beispielsweise die nähere Umgebung erkundet. Wie kann man das im Urlaub noch toppen?
Köhler: Ich bezweifle, dass man in der kurzen Zeit wirklich alles kennengelernt hat. Zu entdecken gibt es nach wie vor viel. Warum bei voranschreitenden Lockerungen nicht mal eine Führung durch die eigene Stadt oder das eigene Viertel machen?
Wenn man seine Heimat mal mit anderen Augen sehen möchte, sollte man sich wie ein Tourist durchführen lassen. Wenn man dabei einen guten Guide erwischt, kann man viel erfahren und neue Perspektiven kennenlernen.
KNA: Welche weiteren Gründe sprechen für den Urlaub zuhause?
Köhler: Zunächst einmal spart man einen Haufen Geld. Außerdem muss man sich nicht mit Reiseplanungen beschäftigen - und natürlich fallen der ganze Stress der An- und Abreise und ein möglicher Jetlag weg, weil man bereits am Urlaubsort ist.
KNA: Muss man sich aber nicht auch den Urlaub zu Hause vorbereiten?
Köhler: Wenn man dazu neigt, zu Hause den ganzen Tag zu versumpfen, sollte man sich jeden Tag etwas Schönes vornehmen - und wenn es gezieltes Nichtstun ist. Ein bisschen Struktur reinzubringen ist sicherlich gut, sonst vergeht der Urlaub zu Hause wie mancher Strandurlaub, und man denkt: Huch, die zwei Wochen sind schon wieder vorbei, ich habe doch noch gar nichts gemacht mit meiner Zeit...
KNA: Wie kann man vermeiden, dass man zu Hause in die Alltagsfalle tappt - die Steuererklärung macht oder den Keller aufräumt?
Köhler: Das Wort Alltag wird immer so verächtlich verwendet, eigentlich kann er mit seinen Routinen doch ganz schön sein. Und es kann durchaus befreiend sein, die Steuererklärung endlich mal mit Ruhe gemacht zu haben.
Um aus seinem gewohnten Trott rauszukommen, kann es helfen, zu Hause die Sachen zu machen, die man sonst nur im Urlaub tun würde. Mein Lieblingstipp: ein Mittagessen in einem tollen Restaurant; das ist ja nun wieder möglich und mit einer Terrasse auch ungefährlich. Dabei den angenehmsten Menschen mitnehmen, den man kennt, dazu schon mittags ein Glas Wein genießen und dann ein wenig angeschickert weiterschlendern. Das kann ein ganz tolles Gefühl auslösen, das man sonst nur im Urlaub hat.
KNA: Wie wichtig ist das mediale Abschalten, um richtig abschalten zu können?
Köhler: Das halte ich für sehr wichtig. Wir hängen oft vor Netflix rum oder lenken uns mit Fernsehen, neuen Nachrichten am Smartphone oder beim Surfen im Internet ab. Dadurch können wir weder im Alltag noch im Urlaub richtig zur Ruhe kommen und uns richtig erholen - weder in Madagaskar noch in Mecklenburg-Vorpommern.
Auch im Alltag gönnen wir viel zu selten das bewusste Nichtstun, nehmen uns viel zu wenig die Zeit, einfach mal in die Sonne zu blinzeln und an nichts Besonderes zu denken. Wenn wir offline sind, lassen wir die Welt buchstäblich ein Stück außen vor und können mehr bei uns ankommen. Das tun wir allenfalls auf einer Strandliege. Dabei tut das total gut, aber zu Hause haben wir das verlernt. Deshalb kann der Urlaub daheim eine echte Chance sein, das mal im vertrauten Umfeld auszuprobieren -und dann vielleicht auch nach dem Urlaub zu kultivieren.
KNA: Und wenn das Fernweh doch überhand nehmen sollte?
Köhler: Fernweh ist ein interessantes Phänomen. Es richtet sich oft gar nicht auf einen bestimmten Ort in der Außenwelt, sondern ist eher eine innere Empfindung. Meistens sehnen wir uns gar nicht nach einer italienischen Terrasse, sondern nach dem Menschen, mit dem wir auf dieser italienischen Terrasse sind. Wir sehnen uns nach einer anderen Version unseres Selbst und danach, andere Persönlichkeitsanteile auszuleben, die im Alltag sonst untergehen.
Bei aufkommendem Fernweh empfehle ich eine innere Typveränderung: Man sollte durchaus mal versuchen, zu Hause der Mensch zu sein, der man in fernen Gefilden gerne wäre. Die neugierige, kosmopolitischere, abenteuerlustigere, aufgeschlossenere Version unseres Selbst könnten wir ja auch mal Hause sein. Es ist doch komisch, dass es uns in der Ferne leichtfällt, uns für Land und Leute zu interessieren. Und zugleich kennen wir unsere eigenen Nachbarn mitunter nicht mal mit Nachnamen.
Von Angelika Prauß